A Blast From The Past

Jane Doe

Ich saß nun schon seit knapp zwei Stunden an diesem Schreibtisch. An diesem Schreibtisch direkt vor dem Fenster. Dem Fenster mit dem Ausblick ins Grüne. Dichte, sattgrüne Nadelbäume, soweit das Auge aus diesem Winkel sehen konnte.

Vor mir ein Wust aus Papieren, gepaart mit einer Tasse Kaffee, der bereits kalt war, einem überfüllten Aschenbecher, in dem eine weitere Zigarette vor sich hin qualmte und einem Kugelschreiber, den ich so fest zwischen meinen Fingern hielt, dass meine Knöchel schmerzten.

Ich starrte auf das Foto auf der Fensterbank, während ein stumpfes Pochen in meinem Kopf an Kraft gewann. Die Frau auf dem Foto, mit den langen kupferfarbenen Haaren und der grauen Strickmütze, sah dem Mann, der einen Arm locker um ihre Schultern gelegt hatte, an, als gäbe es nur die beiden. Sonst niemanden. Er war ein gutaussehender Mann. Dunkelbraunes, leicht gelocktes Haar. Einen charismatischen Dreitagebart und den Blick verschmitzt auf ihre Lippen gerichtet. Sie liebten sich. Das war ganz eindeutig. Und sie wussten um die Liebe des jeweils anderen, vertrauten darauf ohne Zweifel. Auch das konnte man sehen, ja beinahe spüren.

Der zunehmende Schmerz in meinem Kopf holte mich in die Realität zurück. In die Realität, in der ich die Frau auf diesem Foto war. Elisabeth Maiden. Zusammen mit meinem Ehemann. Eric Maiden. Eric Maiden, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Einem Unfall, den ich überlebt und dafür mit meinem Gedächtnis bezahlt hatte.

„Oh Gott“, hauchte ich, ließ den Stift fallen und presste beide Hände an meine Schläfen.

Ich spürte ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust. Das Atmen fiel mir schwer und mein Puls beschleunigte sich, jagte mir Stromstöße durch den Kopf.

„Oh Gott“, wiederholte ich flehend.

Ich muss mich doch erinnern, dachte ich. Da muss doch irgendetwas sein.

Schweiß brach auf meiner Stirn aus und ich musste mit dem Bürostuhl Abstand zum Schreibtisch nehmen, um mich nach vorn über zu beugen und den Kopf zwischen meine Knie zu klemmen. Das half zwar nicht gegen den Kopfschmerz, sorgte aber dafür, dass ich mich beruhigte und wieder atmen konnte.

„Eins“, zählte ich laut und nahm einen tiefen Atemzug, „zwei. Drei. Vier. Fünf.“

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Tiefe Atemzüge. Bis in den Bauch.

Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigte sich mein Herzschlag und ich traute mich meine Haltung etwas aufzurichten, die Arme fest an den Oberkörper gepresst, die Hände zu Fäusten geballt auf meinem Brustkorb.

Einatmen. Ausatmen.

Erneut blickte ich auf das Foto. Das Foto von Elisabeth und Eric. Von mir und meinem Mann, an den ich mich nicht erinnern konnte und der jetzt tot war. Das Foto, geschossen in einem Leben, von dem ich nichts mehr wusste und das nun vorbei war.

Unweigerlich sah ich auf die Unterlagen, die vor mir ausgebreitet waren. Broschüren von Bestattungsunternehmen, Krankenhausrechnungen und Informationen diverser Versicherungen.

Ein geliebter Mensch geht nie ganz. Ein Teil bleibtAbschied nehmen und Trauern –Schritte, die Sie nicht allein gehen müssen… Bilder von Engeln, einsamen Wegen, Lichtstrahlen und weiten Feldern dekorierten Angebote für kostengünstige Beerdigungen jeglicher Art. Allesamt versuchten sie pietätvoll zu sein, Anteil zu nehmen und gleichzeitig wirtschaftlichen Ertrag zu erzielen und Kunden zu gewinnen.

Ein geliebter Mensch… Trauern. Ich hatte Eric geliebt – so sagten es alle. Deshalb sollte und durfte ich trauern – dies sagten auch alle. Und das tat ich auch, trauern. Irgendwo tief in mir. Ich spürte die Traurigkeit durch meine Adern kriechen und sich an mich hängen, wie eine Eisenkugel am Fußgelenk. Aber so sehr ich mich auch bemühte, so sehr ich es wollte, ich konnte diese Trauer nicht mit Eric in Verbindung bringen. Dem Mann, der seinen Arm locker und doch bestimmt um meine Schultern gelegt hatte und den ich irgendwann ein Mal so angesehen hatte, als wäre er das Zentrum des Universums für mich.

***

Am nächsten Morgen erwachte ich mit demselben Gefühl, wie an den Morgen davor. Wie an jedem Morgen seit dem Unfall. Ich wachte abrupt auf und riss meine Augen auf. Die Eindrücke prasselten wie in einem Kurzfilm sogleich auf mein vom Schlaf noch benebeltes Gehirn ein.

Ich hatte einen Autounfall gehabt. Wir hatten einen Autounfall gehabt. Ich und mein Mann Eric. Auf der Zubringerstraße zum Freeway, an der Kreuzung direkt hinter der Kurve. Ein Lastwagen hatte es aufgrund der Wetterverhältnisse nicht mehr geschafft, rechtzeitig zum Stehen zu kommen und uns in den Gegenverkehr geschoben. Dort waren wir frontal mit einem Minivan zusammengeprallt. Eric war noch am Unfallort verstorben. Ich war für vier Tage in ein künstliches Koma versetzt worden und hatte überlebt. Die Insassen des Minivans waren ebenfalls alle verstorben, ebenso der Lastwagenfahrer. Das hatte man mir erzählt. Hatten sie mir erzählt – meine Familie, meine Freunde.

Alle tot – außer mir. Ich hatte überlebt. Ein Wunder hatten sie es genannt. Ich würde leben. Ein Leben, das mir so fremd war, als gehörte es mir nicht.

Retrograde Amnesie hatte der Arzt festgestellt. Die erste klare Erinnerung nach dem Unfall.

„Mrs. Maiden“, versuchte der Arzt in empathischem Tonfall zu vermitteln, der seine professionelle Distanziertheit aber nicht gänzlich überdecken konnte, „leider muss ich Ihnen mitteilen, dass der Unfall Teile ihres Gehirns schwer beschädigt hat. Man spricht von einer retrograden Amnesie, wenn Betroffene sich nicht mehr oder nur teilweise an Dinge aus ihrem Leben vor dem schädigenden Ereignis erinnern können.“

„Und das heißt?“, hatte ich panisch gefragt. Im Hintergrund das gleichmäßige Piepen der Kontrollmonitore. „Geht das wieder weg? Wann kann ich mich wieder erinnern?“

„Das kann man nicht mit Bestimmtheit sagen. Retrograde Amnesien verlaufen sehr unterschiedlich.“

„Und was heißt das?“, wiederholte ich meine Frage nun aufgebrachter. Der Raum fühlte sich klein an, eng und überfüllt.

„Mrs. Maiden, es ist wichtig, dass Sie ruhig bleiben“, versuchte der Arzt beschwichtigend auf mich einzureden. „Sie müssen jegliche Form von Stress vermeiden, wenn Sie ihre Erinnerungen zurück erlangen wollen.“

„Ich soll mich beruhigen?“, keuchte ich. Dies war das erste Mal, dass ich eine Panikattacke bekam. „Wie soll ich mich beruhigen? Ich habe einen Unfall gehabt, an den ich mich nicht erinnere! Bei dem mein Mann gestorben ist, an den ich mich auch nicht erinnere! In meinem Kopf herrscht pures Chaos und alles in meinem Körper schreit, dass ich keinen Tag älter als 20 sein kann! Trotzdem steht auf meinem Krankenblatt, dass wir 2016 haben, was bedeutet, dass ich 31 Jahre alt bin. Und ich kann mich nicht daran erinnern.“

Mir blieb die Luft weg. Mein Brustkorb hob und senkte sich und doch spürte ich keinen Sauerstoff in meinen Lungen.

„Ich kann mich nicht erinnern… Ich kann mich nicht erinnern…“, brachte ich nach Atem ringend hervor.

Wieder im hier und jetzt angekommen, rollte ich mich auf die Seite, zog die Knie an meine Brust und versuchte das Gefühl der aufkommenden Beklemmung zu unterdrücken. Ich war jetzt seit zwei Wochen wieder zu Hause. Zu Hause.

Es gelang mir mittlerweile besser, die aufsteigende Panik zu bekämpfen und mich trotzdem aufzurichten und das Bett zu verlassen. Auch der Blick in dem großen Spiegel im Badezimmer führte nicht mehr zu einem Schock. Die Augen dieser Elisabeth hatten nichts mehr mit denen der Frau von dem Foto im Büro gemeinsam. Sie waren irgendwie dunkler und wirkten leer. Auch das kupferfarbene Haar reichte mir nur noch bis zum Kinn, eine Stelle war für eine OP kahl rasiert worden. Mein linkes Auge erblühte noch in leichten Grün- und Gelbtönen, genau wie die Striemen, die mein Anschnallgurt hinterlassen hatte. Ich würde immer eine Narbe von der Platzwunde an meiner linken Augenbraue zurückbehalten.

Aber was war schon eine Narbe? Ich würde leben.

In der Küche traf ich auf dasselbe Bild, wie an jedem anderen Morgen seit ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Meine Mutter, meine Schwester Jamie und meine Schwägerin Kristin saßen gemeinsam an dem großen Tisch im Esszimmer. Alle drei jeweils einen großen Pott Kaffee in der Hand, in ein leises Gespräch vertieft, dass jedes Mal verstummte, sobald ich die Treppe hinunterkam.

„Guten Morgen, Liebes“, begrüßte mich meine Mutter. Ihre Stimme, genau wie ihre Augen, voll Kummer und Mitleid. „Hast du schlafen können?“

Ich nickte stumm. Überraschenderweise hatte ich mit dem Schlafen keine Probleme. Es war das Aufwachen, welches mich belastete.

„Möchtest du etwas essen, Lizzy?“, fragte Kristin behutsam. „Ich wollte gleich zu Zimmys fahren und ein paar Bagels holen.“

Ich stockte kurz und konnte den Blick nicht von ihr nehmen. Kristin sah aus wie ihr Bruder. Dasselbe nussbraune Haar und diesen verschmitzten Ausdruck um die Augen. Auch bei all der Traurigkeit, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. Man hatte mir gesagt, dass die beiden keine Zwillinge gewesen waren. Eric war drei Jahre älter als Kristin. Älter gewesen. Und dennoch war die Ähnlichkeit nicht zu leugnen.

„Elisabeth?“, holte meine Mutter mich aus meinen Gedanken.

„Entschuldige“, erwiderte ich und räusperte mich. „Ja, ich denke, ich hätte gerne einen -“

„Bagel mit Rosinen“, beendete Kristin meinen Satz für mich und lächelte unsicher. „Die isst du am liebsten.“

„Ja. Richtig.“

Es herrschte ein Moment unangenehmen Schweigens, bevor Kristin sich erhob und auf mich zu kam.

„Glaub mir“, sagte sie und berührte mich am Arm. „Deine Erinnerungen werden schon noch zurück kommen.“ Diesmal versuchte sie ihrem Lächeln eine hoffnungsvolle Note zu verleihen, was ihr nur bedingt gelang. Dann ging sie in die Küche, nahm ihre Handtasche von der Anrichte und ging Richtung Hinterausgang. „Falls euch noch etwas einfällt, ruft mich an. Bis gleich.“

„Alles ok Schatz?“, fragte meine Mutter beunruhigt. Eine seltsame Frage in Anbetracht der Gesamtsituation.

„Ja“, antwortete ich knapp. „Es ist nur ein komisches Gefühl… dass sie so viel über mich weiß, wenn ich…“, ich konnte die letzten Worte nur schwer aussprechen, „Wenn ich nichts über sie weiß.“

Meine Mutter, genau wie meine Schwester, verzichtete auf Aufmunterungen oder Beschwichtigungen. Stattdessen sahen mich beide mit diesem Blick an, der, seitdem ich aus dem Koma aufgewacht war, mein stetiger Begleiter geworden war. Ein Blick, der vor Mitleid nur so triefte und mich in einen Mantel aus Armseligkeit hüllte.

Ich hatte mich dazu entschlossen, mit den ganzen Unterlagen ins Esszimmer zu wechseln. Keine weitere Sekunde hielt ich es in diesem Büro aus. Ich hatte das Foto von der Fensterbank in eine Schublade gepackt und trotzdem war es mir nicht aus dem Kopf gegangen. Die Vertrautheit der beiden hing wie ein schweres Parfüm in der Luft. Süß und penetrant. Und genau wie ein solcher Duft bereitete es mir Kopfschmerzen und mir war, als konnte ich die beiden aus der Schublade heraus hören. Hören, wie sie kicherten und sich Liebesschwüre zuflüsterten.

Hier im Esszimmer war es besser. Dies war der einzige Raum, in dem kein Foto der beiden hing. Nur Familienportraits und Bilder von Freunden. Nicht an alle Gesichter konnte ich mich erinnern. Bei einigen fehlte mir jegliche Erinnerung, bei anderen wusste ich nur gewisse Ereignisse nicht. Hochzeiten zum Beispiel. Geburten von Kindern oder Umzüge.

Ich hatte die Enttäuschung aller gespürt, als das Betrachten alter Fotos rein gar nichts bewirkt hatte. Viel schlimmer waren jedoch die Gefühle, die alle versuchten zu verbergen. Die hässlichen Gefühle, die ihre Daseinsberechtigung hatten, aber von denen keiner sich traute, sie laut auszusprechen. So wusste ich, dass meine Schwiegermutter sich fragte wieso ich überlebt hatte und Eric nicht. Wieso ich nicht jeden Tag in Tränen aufgelöst in meinem Bett verbrachte, so wie sie es tat. So wie eine Witwe es tun sollte. Ich konnte es in ihren Augen lesen, in ihrem kalten Händedruck spüren.

Aber damit durfte ich mich jetzt nicht befassen. Ich musste Erics Beerdigung arrangieren. Seine Beisetzung war überfällig – für ihn und für all seine Angehörigen. Und ich wollte mich darum kümmern. Es gab mir eine Aufgabe, etwas, wozu ich mein Gedächtnis nicht brauchte. Ich konnte auch mit Amnesie bei einem Bestattungsunternehmen anrufen und Termine vereinbaren, Überweisungen tätigen, einen Sarg und Trauerkränze auswählen. Außerdem hatte ich das Gefühl, so wieder gut zu machen, dass ich ihn nicht vermisste. Ich konnte dafür sorgen, dass er die letzte Ehre erhielt, die er laut aller Erzählungen mehr als verdiente und somit meine Pflicht als Ehefrau erfüllen, auch wenn ich keinerlei Verbundenheit zu ihm spüren konnte.

Stumme Tränen rannen mir über die Wangen und tropften auf eine Broschüre. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich zu weinen begonnen hatte. Meine Mutter, die nebenan in der Küche war und das Abendessen vorbereitete, sah wie ich mir über das Gesicht wischte und kam sogleich auf mich zu.

„Ach Lizzy“, brachte sie sanft hervor und schloss mich fest in die Arme. „Ich weiß, was du fühlst. Als dein Vater damals starb, dachte ich auch, dass die Welt aufhören würde zu existieren. Dass ich es nicht überstehen kann.“

„Mom, ich…“, begann ich.

„Ist schon gut“, unterbrach meine Mutter mich. „Ich weiß, du denkst, es sei nicht dasselbe, weil du dich nicht an Erics und deine Zeit erinnern kannst. Aber dein Herz vermisst ihn trotzdem, das weiß ich genau. So, wie ihr euch geliebt habt, ist das auch kein Wunder“, sie seufzte tief und drückte mich fester.

Ich drohte zu ersticken. Ihre Worte fesselten mich in ihrer Umarmung und ich weinte bitterlich. Aber es war keine Trauer, die meine Tränen nährte. Es war Hilflosigkeit. Hilflosigkeit und Wut. Alle glaubten zu wissen, was ich fühlte und wie es mir ging. Alle gingen davon aus, dass Erics Tod ein Loch in meine Brust gerissen hatte und der Schmerz über seinen Verlust an mir nagte. Deshalb kümmerten sich alle aufopferungsvoll um mich. Versuchten mich zu trösten, für mich da zu sein, mich zu unterstützen, wo sie nur konnten und ich hatte nur den Wunsch zu schreien. Aus Leibeskräften zu schreien, in der Hoffnung, dass jemand zu mir sah und wirklich mich sah.

Am besten ging es mir, wenn ich allein und für mich war. Wie in diesem Augenblick. Ich saß in dem alten Auto meiner Großmutter. Da ich mich an den Autounfall nicht erinnern konnte, bereitete es mir auch keine Angst Auto zu fahren. Für meinen Körper war der Unfall nie passiert, also gab es auch nichts zu befürchten.

Meine Schwester hatte mir erzählt, dass meine Großmutter vor vier Jahren verstorben war. Die Nachricht über ihren Tod war mir näher gegangen, als der Tod meines Mannes. Wenn ich an sie dachte, dann lag ein Hauch von Minzöl in der Luft und ein wohlig warmes Gefühl machte sich in meiner Brust breit. Ich erinnerte mich dann an die Nachmittage vor ihrem Kamin, in denen sie mir aus ihren historischen Liebesromanen vorgelesen hatte. Wenn ich an Eric dachte, dann war da nichts. Nichts, das echt war. Nur Dinge, die man mir erzählt hatte. Wie unser erstes Date oder unsere Verlobung. Eric hatte einen Song geschrieben, in dem er um meine Hand anhielt und durch seine Beziehungen zum örtlichen Radiosender wurde dieser Song im Radio gespielt. Von meiner Schwester wusste ich, dass ich überhaupt nicht registriert hatte, dass dieser Song mir gewidmet war. Das klang romantisch und nach der ganz großen Liebe. Wie in einem Spielfilm. Und genauso fühlte es sich an – surreal und fremd. Als wäre es nicht wirklich passiert.

Jetzt war ich auf dem Weg zu Fisher & Brennemans Bestattungsunternehmen, um eben diesen Mann beisetzen zu lassen. Und so sehr ich mich für diese Gedanken auch schämte, hoffte ich heimlich, dass mit seiner Beerdigung auch seine stetige Präsenz verschwand. Vielleicht hatte ich dann eine Chance, als ich wahrgenommen zu werden und nicht mehr nur die Witwe von Eric Maiden zu sein.

Das Büro von Fisher & Brennemans war schlicht aber geschmackvoll eingerichtet worden. Es wurde auf rührselige Bilder und anteilnehmende Zitate an den Wänden verzichtet. Ein paar Pflanzen und ein Zimmerbrunnen bildeten die einzige Dekoration, die sich im Raum befand.

„Mrs. Maiden“, begrüßte mich Mr. Fisher, als er den Raum betrat und reichte mir seine Hand. „Mein aufrichtiges Beileid.“ Sein Blick war sanft und mitfühlend. Sein Händedruck zwar mit der angemessenen Kraft, aber für meinen Geschmack etwas zu lang.

„Danke“, erwiderte ich steif. Ich wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter mich bringen.

„Seinen Partner fürs Leben zu verlieren, muss schmerzhaft- “

„Mr. Fisher, ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, aber ich würde es sehr begrüßen, wenn wir sofort mit den organisatorischen Dingen beginnen.“ Ich versuchte meine Aussage weniger kühl klingen zu lassen und lächelte unsicher.

„Natürlich, Mrs. Maiden. Ich verstehe.“ Mr. Fisher wirkte irritiert, fing sich aber schnell und holte sogleich die nötigen Unterlagen hervor. Auf dem Rand der Kladde stand in schwarzen Großbuchstaben E. MAIDEN und ich fühlte nichts. Nicht mal Betroffenheit darüber, dass ein Mensch verstorben war.

Mr. Fisher bemühte sich für den Rest unseres Gesprächs eine sachliche Miene aufzusetzen. Dennoch entging mir nicht, wie er mich gelegentlich aus dem Augenwinkel ansah – irgendwie argwöhnisch und leicht abschätzig. Auch bemerkte ich, wie er immer wieder ansetzte, um etwas zu sagen, sich dann aber eines Besseren besann und offensichtlich etwas anderes von sich gab, als er ursprünglich getan hätte. Ich fühlte mich unbehaglich in meiner Haut. Verurteilt und missverstanden. Auf der anderen Seite hatte ich diese Verurteilung verdient. Mein Mann war gestorben und ich trauerte nicht um ihn. Und er war ein guter Mann gewesen, treu, aufrichtig und wertschätzend mir gegenüber. Das sagten alle.

„Mrs. Maiden?“, unterbrach Mr. Fisher meine Gedankenspirale.

„Entschuldigen Sie, ich war gerade abwesend. Was sagten Sie?“

„Kein Problem. Ich verstehe Ihre… Situation.“ Er lächelte matt. „In welcher Kirche möchten Sie den Trauergottesdienst abhalten?“

„Ich dachte an die St. James Kirche am Stadtrand.“

„Möchten Sie eine Totenwache?“

„Auf keinen Fall“, brachte ich energischer als angemessen hervor. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die einzige echte Erinnerung an sein Gesicht umrahmt von seinem Sarg sein sollte. Begleitet von dem leisen Weinen seiner Angehörigen.

Mr. Fisher sah mich etwas erschrocken an.

„Er … er ist bei dem Unfall schwer entstellt worden“, log ich, um nicht noch sonderbarer zu wirken.

Fisher nickte verstehend und machte ein Kreuz auf einem Formular.

„So wie ich das sehe, wäre das alles“, fuhr er mit dem gängigen Prozedere fort. „Sie müssten dann hier unterschreiben und sich noch mit Pastor Clemens in Verbindung setzen. Er ist für den Trauergottesdienst und den Beisetzungsakt verantwortlich. Wir werden ihn ebenfalls kontaktieren und organisatorische Belange mit ihm klären.“

Diesmal war es an mir zu nicken und ich unterzeichnete drei Exemplare des Kaufvertrages.

„Dies ist Ihre Ausfertigung“, sagte Fisher und reichte mir eine schlichte graue Mappe. „Sollten Sie noch Fragen haben oder Probleme aufkommen, zögern Sie nicht, sich unter dieser Rufnummer bei uns zu melden.“

Fisher zögerte einen Moment und sah mich eindringlich an. Er schien mit sich zu hadern, ob er noch weiter sprechen sollte oder nicht und entschied sich letztendlich dafür.

„Der Tod verändert das Leben, Mrs. Maiden. Das ist etwas, dass ich in all meinen Jahren in dieser Branche gelernt habe. Falls Sie – und ich meine Sie als Mensch – etwas brauchen, Hilfe, jemanden zum Reden oder auch nur zum Zuhören, stehen auf der Rückseite ein paar Telefonnummern.“

Es entstand ein Moment des Schweigens, der mir Tränen in die Augen trieb und ich konnte nicht antworten. Ein Kloß, so groß wie ein Tennisball, saß in meinem Hals. Und ich meine Sie als Mensch

„Ich danke Ihnen“, krächzte ich, nahm die Mappe an mich und verließ hastig das Büro.

Ich hatte es gerade so bis zum Auto geschafft, als vor meinen Augen weiße Punkte zu tanzen begannen. Ganz langsam spürte ich, wie mir die Luft wegblieb, als lägen zwei Hände um meine Kehle und verstärkten nach und nach ihren Griff. Mein Herzschlag gewann rasant an Tempo und echote unglaublich laut in meinen Ohren. Ich musste mich beruhigen. Es gab keinen Grund für meine Panik.

„Beruhige dich“, wisperte ich mir selbst zu. Schweißperlen sammelten sich auf meiner Stirn. „Du musst dich beruhigen.“

Innerlich versuchte ich mich nur auf meine Atmung zu konzentrieren. Auf die Bewegung meines Brustkorbes, die tatsächlich stattfand, auch wenn die Angst mir einreden wollte, dass ich keine Luft bekam. Und dann weinte ich. Tränenreich und laut, bis meine Wangen glühten und der Druck in meiner Brust nachließ. Ich fühlte mich, als hätte man mich inmitten eines riesigen Waldes ausgesetzt, ausgestattet mit einem kaputten Kompass und der Landkarte eines anderen Planeten und erwartete von mir, dass ich den Weg zurück fand. Ich hatte die Orientierung verloren und kaum noch Kraft, mich aufrecht zu halten.

„Ich schaff das nicht“, sagte ich leise zu mir selbst. „Es ist zu schwer.“

Während ich nach den Taschentüchern suchte, fiel mir mein Handy in die Hand. Jamie hatte mir übergangsweise ein altes von sich geliehen. 3 Nachrichten und ein Anruf in Abwesenheit. Der Anruf und zwei der Nachrichten waren von meiner Mutter. Sie wollte wissen, ob alles ok sei. Die andere Nachricht war von Jamie, mit demselben Inhalt.

Schon wieder diese Frage.

„Ob alles ok war?“, lachte ich hysterisch auf. „Wie sollte es ok sein? Ich habe einen schweren Unfall gehabt, Mutter, und elf Jahre meines Lebens verloren. Elf Jahre, die ich vielleicht nie wieder zurück bekommen werde“, brüllte ich nun lauthals in meinem Auto.

„Und wenn ich mein Gedächtnis doch noch zurück erlangen sollte, wird mein Herz zerbrechen, weil ich meinen Mann verloren habe. Wie sollte es da ok sein? Wie sollte da irgendetwas jemals wieder ok sein?“ Meine Stimme hatte eine unangenehm schrille Tonlage angenommen und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich weiter weinen oder verzweifelt auflachen sollte.

Doch nichts von alle dem schrieb ich als Antwort an meine Mutter oder Schwester. Stattdessen tippte ich kurz und knapp, dass ich beim Bestattungsunternehmen fertig war und jetzt zu Pastor Clemens fahren würde. Die Frage nach meinem Befinden ließ ich dabei unbeantwortet.

Die St. James Kirche lag abgeschieden an einem Hügel, über den sich der angrenzende Friedhof erstreckte. Sie war klein und schief gebaut. Die niedrige Backsteinmauer war von einer Reihe Trauerweiden gesäumt, deren Ränke leicht im Wind wehten. Ganz so, als würden sie einem schüchtern zu winken. Ich hatte mir nie viel aus der Institution Kirche gemacht und auch mit der Glaubensfrage hatte ich mich bisher nicht auseinander gesetzt. Auch nach dem Unfall nicht. Dennoch überkam mich eine Gänsehaut, als ich aus dem Auto stieg und auf die Kirche zu lief, im Hintergrund die grauen Grabsteine, umgeben von weißen Marmorengeln.

Von Innen bestach die Kirche durch ein eher schlichtes Design. Die Fenster zeigten in buntem Glas biblische Bilder und über dem Altar thronte ein gekreuzigter Jesus. Rechts neben dem Altar befand sich ein aufwendig verziertes Taufbecken, in das ebenfalls Bildnisse gemeißelt worden waren. Ansonsten war auf Protz und Prunk verzichtet worden.

Es waren keine Besucher in der Kirche. In der vordersten Reihe saß ein älterer Mann in schwarzem Anzug, mit kurzen grauen Haaren, den Blick Richtung Altar gerichtet. Ich schritt langsam auf ihn zu.

„Entschuldigen Sie“, sprach ich ihn leise an. „Sind Sie Pastor Clemens?“

Der Mann wandte mir sein Gesicht zu und lächelte freundlich. Seine Augen waren von einem weißen Schleier durchzogen, ganz so, als wäre es neblig in ihnen.

„Nein, Miss“, erwiderte er höflich. Seine Stimme war rau und ruhig und passte irgendwie zu seinem Erscheinungsbild. „Pastor Clemens hat gerade ein Beratungsgespräch, aber wenn Sie möchten, können Sie gerne hier auf ihn warten. Es sollte nicht mehr allzu lange dauern.“

Es war ganz offensichtlich, dass der Mann nicht mehr sehen konnte und doch war sein Blick durchdringend. Die vielen Falten und Altersflecken auf seinem Gesicht und seinen Händen ließ mich vermuten, dass er bereits weit älter als 70 sein musste.

„Wenn es Sie nicht stört“, erwiderte ich unsicher.

„Ganz und gar nicht.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Mein Name ist William. Ich bin, nennen wir es mal Hilfspastor.“ Er lachte tief und verhältnismäßig laut.

„Ich bin Elisabeth“, stellte ich mich kurz vor, während ich mich neben ihn auf die Bank setzte.

Es blieb einige Minuten lang still zwischen uns und es war das erste Mal seit dem Unfall, dass sich das Schweigen nicht unangenehm anfühlte. William saß einfach nur da, die trüben Augen geradeaus gerichtet, seine Hände entspannt in seinem Schoß. Er schien eins mit sich zu sein und gab damit dem Raum um ihn herum eine ausgeglichene Schwingung.

„Ist es nicht wunderschön hier?“, sprach William andächtig.

„Ja“, gab ich überrascht von mir. „Diese Ruhe und… ich weiß auch nicht…“

„Wissen Sie, seit 17 Jahren lebe ich nun schon in steter Dunkelheit. Vieles in der Stadt, ach in der ganzen Welt, hat sich seit dem verändert. Aber hier in der Kirche habe ich das Gefühl, als hätte ich mein Augenlicht niemals verloren. Ich kann Ihnen alles ganz genau beschreiben. Jede Nische, jeden Stein, selbst die Schnitzereien in den einzelnen Bänken.“ Er zwinkerte beim letzten Satz.

Wieder saßen wir einige Minuten stillschweigend nebeneinander.

„Glauben Sie an die Hölle?“, fragte ich plötzlich, von mir selbst überrascht.

William neigte seinen Kopf in meine Richtung und sah doch leicht an mir vorbei.

„Wenn ich an den Himmel glaube, dann muss ich auch an die Hölle glauben“, sagte er darauf ruhig, ohne jegliche Form von Wertung in seiner Stimme. „Das eine kann ohne das andere nicht existieren.“

Ich nickte stumm und fühlte eine zentnerschwere Last auf meinen Schultern.

„Und wenn ich Ihnen jetzt erzählen würde, dass ich eine junge Frau kenne, die etwas Schreckliches überlebt hat, mehr Glück hatte, als andere und sich nicht darüber freuen könnte“, begann ich mit bebender Stimme, „würden Sie dann sagen, dass sie in die Hölle kommen wird? Dafür, dass sie nicht dankbar ist, noch am Leben zu sein und es nicht zu schätzen weiß?“

„Nein“, erwiderte er schlicht und ohne zu zögern.

„Und wenn nun bei diesem schrecklichen Ereignis ihr geliebter Mann, der immer gut zu ihr war, ums Leben gekommen wäre und sie ihn nicht vermissen könnte, weil sie sich nicht an ihn erinnerte?“

„Auch dann nicht“, antwortete William erneut. Er regte sich nicht, blieb ganz ruhig neben mir sitzen, seinen Kopf noch immer in meine Richtung geneigt, den Blick zu Boden gerichtet.

„Und wenn“, ich stockte und schmeckte den bissigen Geschmack von Scham gepaart mit Wut auf meiner Zunge, „wenn sie sich insgeheim wünschte, dass alle aufhören würden von ihm zu reden? Von ihm und ihr und ihrer großen Liebe? Und dem großen Kummer, den sie verspüren musste?“

Ich lachte bitter. Ein hässliches Lachen, ätzend und schrill.

„Denn den müsste man ja verspüren, bei so einer Liebe, nicht? Auch wenn das Gedächtnis alles darüber gelöscht hätte. Auch, wenn ihr Gedächtnis weitaus mehr gelöscht hätte. Und zwar alles. Alles, was sie ausgemacht hatte und es sich im Prinzip so anfühlte, als wäre sie mit ihm gestorben. In diesem verfluchten Auto, auf dieser verfluchten Kreuzung!“ Ich schrie die letzten Worte, warf sie wie Steine und wollte verletzen, zerstören. So wie ich verletzt war. So wie ich zerstört war.

Als das Echo meiner Stimme langsam verebbte, flüsterte ich: „Sie ist mit ihm gestorben, wissen Sie. Sie ist weg und ich fürchte, sie kommt nicht mehr zurück.“

William blieb einen Augenblick lang stumm. Er richtete seine Haltung etwas auf und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Innerlich bebte ich. Die Worte hallten in meinen Gedanken nach, gepaart mit furchtbaren Bildern eines Unfalls, die nicht echt, sondern nur meiner Vorstellung entsprungen waren.

„Sie machen es sich zu einfach“, durchbrach William die Stille mit einer Sanftheit, die mir eine Gänsehaut bereitete.

„Und selbst, wenn es so wäre? Dass sie verdammt wären?“, fragte er ganz unverhohlen. „Sie können die Hölle nicht als Ausweg nehmen, um die Verantwortung für ihr eigenes Leben abzulegen.“

William hielt einen Moment inne, bevor er weitersprach.

„Ich glaube, dass ich verstehen kann, was Sie fühlen. Und ich kann auch verstehen, dass Sie Angst haben. Angst vor der Zukunft, die sich noch viel ungewisser anfühlen muss, wenn man die Vergangenheit nicht kennt. Aber dennoch sind Sie hier und von Himmel oder Hölle weit entfernt. Ich denke, es wäre fatal aufzugeben, weil Sie glauben, dass Sie unweigerlich der Verdammnis geweiht sind.“

Williams trüber Blick fand auf unerklärliche Weise den meinen.

„Sie entscheiden jeden Tag aufs Neue, wohin Ihr Weg sie führen wird. Und ganz gleich, was Sie tun oder fühlen, Ihr Leben kann Ihnen niemand abnehmen. Auch die Hölle nicht.“

Links öffnete sich eine Tür und Stimmen erklangen. Ich zuckte kurz zusammen, fuhr mir mit beiden Händen durch mein erhitztes Gesicht und kam mir auf einmal furchtbar lächerlich vor.

„Tut… tut mir leid“, stammelte ich beschämt. Ich konnte ihn nicht anblicken, auch wenn ich wusste, dass er meinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

„Das muss es nicht“, sagte er freundlich und legte mir behutsam eine Hand auf die Schulter. „Ich könnte jetzt so etwas sagen wie ‚Die Wege des Herrn sind unergründlich‘, aber das schenke ich mir.“ William stockte kurz, schien die nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. „Abgerechnet wird am Ende, Elisabeth. Und ganz eindeutig ist Ihr Ende noch nicht gekommen.“

Ich zog kräftig an der Zigarette, während ich unruhig mit dem Rücken gegen den Wagen meiner Großmutter lehnte. Die Sonne war hinter einer grauen Wolkendecke verschwunden und mit dem aufkommenden Wind fröstelte es mich. Dennoch war die Kälte auch angenehm. Sie half mir einen klaren Kopf zu behalten. Ihr Leben kann Ihnen niemand abnehmen. Auch die Hölle nicht.

William hatte ich nach dem Gespräch mit Pastor Clemens nicht mehr gesehen. Der Platz in der Bank der ersten Reihe war leer gewesen, als ich durch die große Halle zurück zum Ausgang der Kirche gegangen war. Mein Blick schweifte unstet über die Grabsteine und Figuren des Friedhofs, aber auch hier war er nicht zu sehen.

Mein Ausraster war mir unangenehm und doch hatte es sich gleichermaßen befreiend angefühlt, meinen Gefühlen Luft zu machen. Meinen echten Gefühlen. Nicht denen, die alle mir zuschrieben.

Hatte er Recht? Machte ich es mir zu leicht? Versuchte ich die Verantwortung für mein Leben abzugeben?

Ein weiterer Zug an meiner Zigarette. Es war unheimlich still auf dem Friedhof. Nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören. Ich war allein. Allein mit meinen Gedanken, die mit jedem Herzschlag an Lautstärke gewannen. Wenn William Recht hatte, was bedeutete das? Wie konnte ich Verantwortung für mein Leben übernehmen, wenn es sich nicht mal wie mein eigenes anfühlte? Wenn ich mich selbst kaum wiedererkannte? Alles um mich herum fühlte sich an wie ein Traum oder ein Schauspiel. Als mimte ich eine Rolle, die man mir zugeteilt hatte. Nur leider fand es kein Ende. Kein Vorhang, der fiel und mich zurück in die Realität entließ.

Das Vibrieren meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich löschte die Zigarette, in dem ich sie ein paar Mal über den Asphalt rieb und stieg ins Auto. Dort warf ich den Glimmstängel in den Aschenbecher und atmete tief durch, wartete bis der Anruf endete.

Ich konnte jetzt nicht mit meiner Mutter sprechen. Oder meiner Schwester. Oder meiner Schwägerin. Ich konnte ihre Stimmen nicht ertragen oder die Fragen nach meinem Befinden – ob alles ok sei. Also nahm ich mein Handy in die Hand und tippte eine kurze SMS, die allen mitteilte, dass ich alles geregelt hatte und auf dem Heimweg war.

Ich hatte gehofft, dass mir das Arrangieren von Erics Beerdigung so etwas wie inneren Frieden brachte, dass sich zumindest ein Teil meines Gewissens versöhnlich zeigen würde. Dies war ein Irrtum gewesen. Einer von so vielen in der letzten Zeit. Nachdem auch das letzte Detail der Beisetzung geregelt war, hatte ich massenweise Lob und Anerkennung erhalten. Ich hatte das Gefühl, dass wirklich jeder, der Eric auch nur ein Mal begegnet war, sich aufgemacht hatte, um mir seinen Zuspruch für meine Kraft und meine Aufopferung in dieser schweren Zeit –  bei diesem schwerem Verlust – mitzuteilen. Mit jedem Telefonat, jedem kurzen Besuch schien ich mehr und mehr zu verschwinden. Zurück blieb eine Hülle, die mechanisch höfflich antwortete, routiniert Hände schüttelte und sich erwartungsgemäß demütig zeigte. Es waren noch drei Tage bis zur Beisetzung und ich hatte keine Ahnung, wie ich diese Zeit, noch die Bestattung überstehen sollte, ohne völlig den Verstand zu verlieren.

Resigniert saß ich auf der Kante des Ehebettes im Schlafzimmer. Ich hatte die Tür abgeschlossen und den anderen gesagt, dass ich mich hinlegen und ausruhen würde. Etwas, das mir bisher niemand verweigert hatte. Denn alle wussten ja, wie schwierig die Situation für mich war, wie schlecht es mir ging.

Jetzt saß ich hier, die Knie an die Brust gezogen, beide Arme darum geschlungen und ließ meinen Blick unruhig durchs Zimmer wandern. Nichts in diesem Raum kam mir vertraut vor, noch viel schlimmer, ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich selbst Teile der Einrichtung ausgesucht hatte. Vor dem großen Erkerfenster stand ein furchtbar altmodisches Kanapee mit einem völlig überladenen Blumenmuster. Unbequem war es auch. Die Wände waren in einem kalten Grün-Ton gestrichen, beinahe Jade. Das machte den Raum dunkel und irgendwie beklemmend. Die Möbel wiederum waren alle schneeweiß, was der Szenerie irgendwie etwas Klinisches gab. Die Fotos der Beiden hatte ich schon vor Tagen alle abgehängt und in einer Kiste ganz hinten im Wandschrank verstaut. Seit dem Gespräch mit William hatte ich angefangen, in Gedanken von den beiden zu sprechen, wenn es um mich und meinen verstorbenen Mann ging. Es erschien mir als der einzige Weg, mich auf der Suche nach mir selbst nicht gänzlich zu verlieren. Die Begegnung mit William hatte etwas in mir verändert. Ein Gedanke war gereift, der von einem überaus mächtigen, wenn auch noch zartem Gefühl genährt wurde. Hoffnung. Gleichzeitig ging diese Hoffnung Hand in Hand mit markdurchdringender Angst. Die Finger der beiden waren so stark miteinander verwoben, dass ich das Eine nicht ohne das Andere fühlen konnte.

Aber es gab eine Sache, bei der ich meiner Familie mittlerweile zustimmte – es war ein Wunder, dass ich noch lebte. Und wenn ich diesem Wunder gerecht werden wollte, dann musste ich auch wirklich leben. Und wenn ich dazu Hoffnung nur mit Angst als vorübergehenden Begleiter spüren konnte, dann würde ich das akzeptieren. Denn so konnte ich nicht weiter machen. Das würde keiner von uns schaffen – weder die alte noch die neue Elisabeth.

„Wo bist du so lange gewesen, Lizzy?“, meine Mutter stand im Türrahmen zum Schlafzimmer und hielt mit einer Hand den Seidenschaal fest umklammert, den sie um ihren Hals trug. Das hatte sie früher schon getan, wenn sie aufgeregt war, aber versuchte, sich im Zaum zu halten.

„Unterwegs“, antwortete ich, ohne sie anzuschauen. „Ich hatte noch ein paar Dinge zu erledigen.“

Auch ohne meine Mutter zu sehen, konnte ich fühlen, wie sie mit sich selbst rang, ob sie eintreten sollte oder nicht. Sie verlagerte ihr Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen, machte einen minimalen Schritt nach vorn und dann wieder zurück. Und dieser alberne Seidenschaal!

„Was hattest du denn zu erledigen?“

„Mom, bitte.“ Ich hatte keine Zeit für so ein Gespräch. Und auch keine Energie. Und wenn ich ehrlich war, auch keine Lust. Schnell verschwand ich ins Badezimmer und verstaute die Plastiktüte mit den Einkäufen aus dem Drogeriemarkt im Schrank unter dem Waschbecken. Meine Mutter hatte ihren inneren Kampf indessen entschieden und stand mit verschränkten Armen hinter mir. Ihr graues, gelocktes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, war leicht aus der Form geraten. Sie sah aus, als wäre sie in den letzten Wochen um Jahrzehnte gealtert. Allerdings war ich wohl kaum die richtige Person dies einzuschätzen. Natürlich sah sie älter für mich aus. Mir fehlten elf Jahre.

„Elisabeth“, setzte meine Mutter an. Ihre Stimme hatte wieder diesen Tonfall angenommen, behutsam und scheu. Als müsste sie mit einem Kleinkind über ein Thema reden, für das es eigentlich noch nicht bereit war. „Wir machen uns nur Sorgen. Ich weiß ja, dass ich manchmal überreagiere und dir deinen Freiraum lassen sollte. Aber seit des Unfalls ist das gar nicht so einfach.“

„Ich weiß, Mom“, unterbrach ich sie. Ich wollte nicht so hart klingen, aber ich spürte schon wieder das altbekannte Gefühl des Erstickens aufkommen. Mit jedem Wort, das sie sprach, raubte sie mir den Sauerstoff zum Atmen.

„Wir wollen doch nur dein Bestes. Und Kristin ist heute extra früher gekommen. Du wusstest doch, dass sie die Videos mitbringt, damit-“, meine Mutter stockte. Ihr fehlten die Worte, auch wenn wir beide wussten, was sie sagen wollte.

Damit ich mich wieder erinnerte, würde sie sagen. Damit ich wieder die alte würde, meinte sie.

Ich hielt in meiner Bewegung inne, nahm einen tiefen Atemzug und drehte mich entschlossen um.

„Nichts wird jemals wieder wie früher werden“, sagte ich erschreckend ruhig und sah ihr dabei tief in die Augen. Wir hatten dieselbe Augenfarbe. Nein, sie und Elisabeth hatten dieselbe Augenfarbe, sogar denselben Ausdruck.

„D-das weiß ich“, entgegnete sie.

„Nein.“ Ich musste unweigerlich lachen. „Nein, das weißt du nicht. Du glaubst es vielleicht, redest es dir Tag für Tag ein, aber insgeheim hoffst du, hoffen doch alle hier, dass ich mir irgendetwas ansehe, irgendwo hingehe und Peng, die Erinnerungen sind wieder zurück und alles ist wie früher.“

Mit schnellen Schritten verließ ich das beengte Badezimmer. Erschrocken wich meine Mutter mir aus und ihre Hände griffen wieder nach dem Seidenschaal.

„Aber das wird nicht so sein und ich kann auch gar nicht glauben, dass ihr das wollt!“ Ich hatte die letzten Worte geschrien. Mein Herz begann immer schneller zu schlagen und meine Kehle verengte sich. Ich würde jetzt keine Panikattacke bekommen. Nein, das würde ich nicht zu lassen!

„Alles ok bei euch?“, hörte ich die Stimme meiner Schwägerin, begleitet von eiligen Schritten. Keinen dünnen Atemzug später erschien sie im Türrahmen und beäugte mich und meine Mutter skeptisch.

„Was ist hier los?“, fragte sie.

„Was hier los ist?“, wiederholte ich ihre Frage beinahe hysterisch. „Das ist eine sehr gute Frage Kristin. Was. Ist. Hier. Eigentlich. Los. Dann will ich dich doch mal erleuchten, liebe Schwägerin. Ich habe mich gerade mit meiner sorgenvollen Mutter darüber unterhalten, wie ihr doch alle nur mein Bestes wollt. Dass ich mich erinnere, dass ich wieder die alte werde, dass alles wieder gut wird. Aber keiner kann mir sagen, wie das gehen soll. Kannst du es, Kristin?“

Kristin öffnete den Mund, sagte aber nichts. Konnte nichts sagen. Was sollte man auch sagen? Betreten wandte sie den Blick ab und schaute zu Boden.

„Dachte ich mir. Ist euch vielleicht schon mal der Gedanke gekommen, dass ich mich nicht erinnern will?“ Da. Es war raus. Ich hatte es gesagt.

„Elisabeth!“ Meine Mutter war schockiert. Ihr ganzes Erscheinungsbild bebte im Echo dieser Aussage. „Wie kannst du so etwas sagen. Das ist nicht fair.“

„Nein, Mom. Nichts an alledem ist fair. Oder ist es fair, dass ihr wollt, dass ich mich erinnere, nur um dann vor Schmerz zu vergehen? Ihr müsstet es doch am besten wissen, so wie Eric und ich uns geliebt haben, oder nicht?“ Herausfordernd sah ich erst zu Kristin und dann zu meiner Mutter. Keiner von beiden wagte es auch nur ein Wort zu sagen. Die aufkommende Panik in meinem inneren war verebbt und mit ihr schwand auch meine Rage. Erschöpft ließ ich mich auf die Bettkante fallen.

„Ich will nur“, begann ich, doch fand ich nicht die richtigen Worte oder die Kraft oder Beides, um den Satz sofort zu beenden. So verstrichen einige Augenblicke in absoluter Stille. Nur der Klang des Radios hallte leise aus der Küche die Treppe hinauf.

„Ich will einfach nur, dass alle aufhören, so zu tun als ob sie wüssten, wie es mir geht oder was das Beste für mich wäre. Ich bin nämlich hier. Genau hier. Aber ich bin nicht mehr die Elisabeth von früher und selbst wenn ich mich erinnern könnte, würde es daran nichts ändern.“

***

Ich stand im Badezimmer und starrte mein Spiegelbild an. Die Augen der jungen Frau, die zurückblickte, wirkten müde und waren von dunklen Schatten untermalt. Sie war blass. Daran konnte auch das aufgetragene Make-up nichts ändern. Das schwarze Kleid tat sein übriges.

In meinen Händen hielt ich die Plastiktüte aus dem Drogeriemarkt. Mit leicht zittrigen Fingern holte ich die Packung Haarfärbemittel heraus und betrachtete das Bild des Covermodels. Dark chocolate mousse nannte sich der Farbton für den ich mich entschieden hatte. Aber im Prinzip war es Dunkelbraun. Erneut sah ich die junge Frau im Spiegel an und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich den Eindruck, sie nickte mir zu. Ganz so als gäbe sie mir ihr Einverständnis für mein Vorhaben. Wir waren uns einig, die alte Elisabeth und ich.

Die Fahrt zur St. James Kirche dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Aber da niemand etwas sagte, fühlte es sich wie eine halbe Ewigkeit an. Kristin fuhr und tat dementsprechend konzentriert. Sie führte den Schulterblick überkorrekt aus, blinkte für jeden noch so kurzen Spurwechsel und selbst im Rückspiegel trafen sich unsere Blicke nicht. Meine Mutter sah abwesend aus dem Fenster und auch wenn meine Schwester bei dem Streit nicht zugegen gewesen war, musste man ihr davon berichtet haben. Ihre Miene war hart und anklagend. Die Augenbrauen beinahe chronisch erhoben und die Lippen angespannt zusammen gepresst.

Ich konnte mich natürlich irren. Immerhin waren wir auf dem Weg zu Erics Beerdigung und er hatte allen Insassen dieses Wagens sehr viel bedeutet. Vielleicht kämpften sie einfach nur mit ihrer Trauer, mit der Endgültigkeit seines Todes, die seine Beisetzung offiziell besiegelte.

Letztendlich änderte es nichts an der tiefen Schlucht, die ich zwischen mir und den Menschen um mich herum verspürte. Doch mittlerweile war mir klar geworden, dass diese Kluft auch nicht durch zurückehrende Erinnerungen überbrückt werden konnte. Denn das, was ich zu William in der Kirche gesagt hatte, war die Wahrheit gewesen. Elisabeth war gemeinsam mit ihrem Ehemann verstorben. Sie selbst war nur noch eine Erinnerung, ein Schatten, der sich ein Leben lang selbst hinterher jagen würde, wenn ich es zuließ. Und deshalb erschien es mir beinahe lächerlich selbstverständlich, dass auch Elisabeth ihre letzte Ruhe verdiente. Nicht Erics Bestattung würde mir den ersehnten inneren Frieden bringen, sondern ihre.

Meine Großmutter hatte immer gesagt, dass kaum etwas die Menschen so sehr miteinander verband, wie die Liebe. Heute hatte ich gelernt, dass es noch etwas anderes gab – Trauer. Die kleine Kirche am Rande der Stadt war bis zum letzten Platz gefüllt. Selbst hinter den Sitzreihen standen unzählige Menschen, die Eric Maiden die letzte Ehre erweisen wollten. So viele traurige Gesichter, so viele Tränen und ein Meer aus Schwarz.

Links auf dem Altar stand ein großes Bild von Eric. Er trug einen Anzug und lächelte schief in die Kamera. Daneben ein großer Strauß weißer Lilien und zwei weiße, dicke Kerzen. Rechts lag ein riesiger Trauerkranz aus weißen und roten Rosen. Eine elfenbeinfarbene Schärpe umwickelte ihn und in goldenen Lettern hatte seine Familie von ihm Abschied genommen und geschworen, ihn niemals zu vergessen. Seine Eltern saßen in der ersten Reihe rechts. Ich spürte ihre Blicke zentnerschwer auf mir lasten. Also vermied ich es, sie anzusehen. Es gab ohnehin nichts, dass ich hätte tun oder sagen können. Stattdessen starrte ich Erics Foto an. Wie konnte es sein, dass das Gehirn jemanden einfach auslöschen konnte? Jemanden, mit dem man viele Jahre jeden Tag verbrachte hatte, dessen allerkleinste Angewohnheit man kannte? Jemanden, der so sehr zu einem gehörte, als wäre man miteinander verwachsen? Wie konnte es sein, dass sich beim Anblick seines Abbildes nichts in mir regte? Kein Gefühl. Kein Geruch. Nicht mal ein Déjà-vu. Unweigerlich wanderte mein Blick Richtung William. Er stand links in der Tür zu den Büroräumen des Pastors. Seine Augen waren geschlossen und seine Hände gefaltet. Ich musste, wie so oft, an unser Gespräch zurück denken und ein anderer Gedanke kam mir in den Sinn. Vielleicht war ich ja schon längst in der Hölle?

Es war ein schöner Gottesdienst gewesen, sofern man von schön in Anbetracht der Situation sprechen konnte. Pastor Clemens hatte eine passende Bibelstelle zitiert und sich sehr taktvoll mit dem Thema des Neubeginns, welcher in jedem Ende steckte, auseinander gesetzt. Kristin hatte ebenfalls ein paar Worte gesagt, begleitet von stummen Tränen, die ihr unentwegt über die Wangen liefen.

Jetzt standen wir alle um Erics Grab herum. Über dem aufgebockten Sarg lag eine Decke aus weißen Rosen. Davor stand der Trauerkranz – die Schärpe wehte leicht im Wind. Das Wetter hatte sich dem traurigen Anlass angepasst. Der Himmel war wolkenverhangen, bereit, jede Sekunde mit uns um den Verlust von Eric Maiden zu weinen. Auch die Trauerweiden, die den Friedhof umgaben, schienen ihre Ranken heute noch tiefer hängen zu lassen.

Ich hatte aufgehört die Hände zu zählen, die ich schüttelte. Auch die Kondolenzworte nahm ich nicht wahr, nickte einfach mechanisch. Alles, was ich tun konnte, war dem Sarg dabei zuzusehen, wie er langsam in dem dunklen tiefen Loch versank. Zentimeter für Zentimeter, bis selbst die letzte Rose gänzlich aus meinem Blickfeld verschwunden war und es schien mir, als hätte er sämtliche Luft zum Atmen mit sich fort genommen.

„Entschuldigt“, murmelte ich und wandte mich von der Menge ab.

„Elisabeth?“, rief meine Mutter mir nach.

„Lass mich, Mom.“

Ich brauchte Abstand. Abstand und Sauerstoff. Mit unsicheren Schritten entfernte ich mich von den Trauernden und Erics Grab. Mir wurde schwindelig und das Atmen fiel mir schwer. Ich würde nicht viel weiter gehen können, bevor mich die Panik gänzlich eingeholt hatte und die Kontrolle übernehmen würde. Durch tanzende Lichtpunkte erkannte ich eine Bank in einigen Metern Entfernung. Wie ein Ertrinkender sich versuchte ans Ufer zu retten, kämpfte ich mir meinen Weg zu dieser Bank. Ich stolperte über die Unebenheiten der Wiese, musste mich an Grabsteinen stützen und war nassgeschwitzt, als ich mich endlich keuchend hinsetzen konnte. Es rauschte in meinen Ohren und mein Körper bebte. Ich musste mich beruhigen, mich auf meine Atmung konzentrieren. Also nahm ich meinen Kopf zwischen meine Beine, versuchte den Klang meines donnernden Herzens auszublenden und mich nur auf das Heben und Senken meines Brustkorbs zu konzentrieren. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen.

„Es hilft mehr, wenn Sie sich aufrichten und die Arme über den Kopf heben“, erklang eine mir vertraute Stimme.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass jemand gekommen war. Ich spürte, wie William sich neben mir auf der Bank nieder ließ.
„Woher…“, begann ich meine Frage.

„Ich mag vielleicht blind sein, aber meine übrigen Sinne funktionieren noch einwandfrei. Ich kann das Geräusch ihrer Atmung hören und das leise Flüstern ihrer Anleitung zur Ruhe.“

Langsam richtete ich meine Haltung auf und öffnete die Augen. Ich horchte einen Moment in mich hinein, vernahm, dass mein Herzschlag immer noch beschleunigt, die Panik aber erloschen war. Also nahm ich einen tiefen, pfeifenden Atemzug.

„Sind sie weg?“, fragte ich.

„Was glauben Sie?“

„Blöde Frage.“

William und ich saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Die Panikattacke hatte ganz schön an meinen Kräften gezerrt und ich begann zu frieren. Unweigerlich stellte ich den Kragen meines Mantels auf und vergrub mein Gesicht darin. Bevor William die Gelegenheit nutzen konnte, mich zu fragen, ob wir ins Warme gehen wollten, ergriff ich das Wort.

„Ich kann jetzt nicht rein gehen“, sagte ich resigniert. „Geschlossene Räume ertrage ich jetzt nicht. Es ist einfach zu viel.“

William nickte stumm.

„Tee?“, erwiderte er daraufhin.

Ich sah ihn fragend an, obgleich ich wusste, dass er meinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

„Ich könnte Ihnen auch noch Kaffee anbieten, wobei mich dieses hochmoderne Gerät immer wieder aufs Neue herausfordert.“

Ich schmunzelte leicht. „Tee wäre schön.“

Mit zunehmend später werdender Stunde sanken die Temperaturen. Ich wollte, nein konnte nicht rein gehen. Wenn William ebenfalls fror, so ließ er es sich nicht anmerken. Wir saßen noch immer auf der Bank auf dem Friedhof, jeder von uns eine kleine metallene Tasse mit mittlerweile nicht mehr ganz so heißem Hagebuttentee in der Hand. Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, aber vor einer Weile hatte auch das letzte Auto den Parkplatz der Kirche verlassen, was mich vermuten ließ, dass meine Mutter und Schwester nun endlich gegangen waren. Keiner hatte auch nur versucht, uns aufzusuchen, aber sie waren noch hier gewesen und hatten uns beobachtet.

„William“, begann ich, während ich die Tasse fester umklammerte, „ich würde Sie gerne um etwas bitten.“

Er wandte mir sein Gesicht zu und nickte.

„Es mag Ihnen“, ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte, „grotesk vorkommen. Ja vielleicht sogar falsch. Keine Sorge, Sie machen sich nicht strafbar.“

Er lächelte mild und tätschelte leicht mein Knie. Ich war immer noch beeindruckt, wie gut er Dinge lokalisieren konnte, ohne die Fähigkeit zu Sehen.

„Ich möchte, dass Sie mich beerdigen.“ Ausgesprochen klang das so falsch in meinen Ohren. „Also nicht wirklich. Ich lebe ja, aber…“

„Ich weiß schon“, entgegnete William ruhig. „Sie leben, aber Elisabeth nicht mehr.“

Ich nickte abwesend.

„Ich habe jetzt sehr viel drüber nachgedacht und es erscheint mir als die einzige Möglichkeit weiterzumachen. Ich kann es schlecht erklären. Es ist so ein Gefühl in mir, dass mich dazu drängt.“

Ich hielt einen Moment inne.

„Als wäre es Elisabeth selbst“, flüsterte ich. „Als hätte sie keine Kraft mehr und ich… ich habe nicht genug Kraft für uns beide.“

William blickte gerade aus. Er hielt seinen Tee in seiner linken Hand, die andere ruhte auf seinem Knie. Während ich ihn beobachtete, fragte ich mich, wie viele Geheimnisse er wohl schon mit sich trug? Wie viele Menschen zu ihm gekommen waren, verzweifelt, traurig, vielleicht sogar des Lebens müde?

„Sie werden fortgehen?“ Es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage.

„Ich kann nicht hier bleiben. Ich gehöre hier nicht hin. Nicht mehr.“ Betreten betrachtete ich den Tee in meinem Becher. Durch die herannahende Dunkelheit und die fehlende Beleuchtung, wirkte die Flüssigkeit beinahe schwarz. „Ich kann nirgendwo hingehen, ohne die beiden zu sehen. Ich kann nicht zum Fluss, nicht in die Stadt. Ich kann nicht einmal morgens aufwachen, ohne von ihnen umgeben zu sein. Ich werde heimgesucht, aber nicht nur von einem Geist, sondern von einem ganzen Leben. Und alle sehen mich an und sehen mich doch nicht. Sie sehen entweder nur das, was mal war oder was sie hoffen, dass wieder sein wird. Aber ich…“

Ich konnte nicht weitersprechen und hoffte, dass ich das auch nicht musste. Hoffte, dass William mich auch so verstand.

„Und wenn die Erinnerungen zurückkommen?“

Diese Frage hatte ich mir selbst auch schon gestellt.

„Dann hoffe ich, dass ich sie wie einen alten Freund begrüßen kann.“

Die Landschaft zog in grauen Schleiern an mir vorbei. Der Schnellzug fuhr ebenmäßig in hoher Geschwindigkeit. In weiter Entfernung sah ich die Sonne, wie sie sich ihren Weg durch die Wolkendecke bahnte. Sie würde es nicht leicht haben. Der Himmel glich einer Betonwand – undurchdringlich und finster. Aber allein der goldene Schimmer, der sich immer weiter ausbreitete, versicherte mir, dass sie es schaffen würde. Das Grau würde hellem Licht weichen und ihre Wärme die Kälte ausmerzen.

Obwohl der Anblick eher trostlos war, schaute ich weiter aus dem Fenster. Mein Herz schlug schnell in meiner Brust, aber es beängstigte mich nicht. Ganz im Gegenteil. Jeder Herzschlag glich einer Einladung und pumpte pures Leben durch meine Adern. Es war nicht so, dass ich keine Angst hatte – ganz im Gegenteil – aber ich hatte das schwere Gepäck der Vergangenheit hinter mir gelassen. Wie ein Künstler, der ein Gemälde fertig gestellt hatte, saß ich nun vor einer neuen, leeren Leinwand. Geleitet einzig von der Inspiration, von Neugier, vom Glauben an Wunder.

Der Abschied war mir überraschend schwergefallen. Nicht nur von meiner Familie, sondern auch von Elisabeth. Die Tränen, die ich bei ihrer Beerdigung vergossen hatte, waren echt gewesen. Entgegen meines ursprünglichen Plans hatte ich meine Familie in mein Vorhaben eingeweiht und entgegen meiner Erwartungen waren sie alle zu Elisabeths Beisetzungen gekommen. Sogar meine Schwiegermutter. Wenn ich jetzt so daran zurückdachte, hatte es allen gleichermaßen Frieden gebracht, sich von Elisabeth zu verabschieden und somit mit dem tragischen Ereignis, dass so viele Leben verändert hatte, abzuschließen. Auch hatte niemand wirklich versucht, mich aufzuhalten, obwohl ich sehen konnte, wie sehr es meiner Mutter das Herz brach, als ich in den Zug gestiegen war. Sie wusste genauso gut wie ich, dass ich nicht zurückkehren würde. Dennoch versuchte sie nicht, mich aufzuhalten.

Ich konnte das Gewicht der Todesanzeige für Elisabeth in meinem Rucksack spüren. Aber es fühlte sich nicht wie eine unerträgliche Last an. Nein, es war eher so, als erdete es mich, erinnerte mich daran zu träumen, aber trotzdem mit einem Bein auf dem Boden zu bleiben.

Ich war mir immer noch nicht sicher, ob mich mein Weg letztendlich dem Himmel oder der Hölle näherbrachte, aber ich hatte mir Williams Worte sehr zu Herzen genommen.

Abgerechnet wurde am Ende und mein Ende war offensichtlich noch nicht gekommen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert