Irgendwann
Vorsichtig fahre ich mit dem Schwamm über mein Gesicht, verdecke die Schatten. Ein schwarzer Wimpernkranz für ausdrucksvolle Augen, ein tiefes Rot, für einen sinnlichen Mund und zartes Rouge auf den Wangen für Lebendigkeit. Ich streiche meine Haare ein wenig zurück, richte meine Haltung auf und lächele mich an. Die Frau im Spiegel ist überzeugend, so wie immer. Schnell lasse ich die Utensilien, denen ich mein stumpf strahlendes Aussehen verdanke, in meiner Tasche verschwinden, streife mir den schwarzen Blazer über und verlasse das Bad und sein grelles Neonlicht, bei dem man die Realität noch viel schwerer verstecken kann. Während meine Schritte von den hohen Wänden zurückhallen, höre ich die anderen im Konferenzsaal reden. Sie sind rastlos, ungeduldig, angespannt. Sie warten. Auf mich. Als ich den Raum betrete, lächeln alle – genauso falsch, wie die Frau vorhin im Spiegel.
„Rebecca“, erklingt die Stimme meines Vaters mit diesem salbenden Unterton, wie er ihn nur benutzt, wenn er eine Nachricht überbringen muss, die nicht angenehm ist. Erst in Sicherheit wiegen und dann zuschlagen.
„Rufus“, erwidere ich die Begrüßung. Keine familiäre Nähe, hier geht es ums Geschäft und das fällt mir nicht schwer, denn es geht immer ums Geschäft. Wie es sich gehört, begrüße ich auch alle anderen im Raum. Charles, unseren Chefsekretär, Andrew, unseren Produktionsleiter und Sharon, unsere Betriebsanwältin. Sie sieht gut aus. Erholt und frisch. Der Urlaub scheint ihr gut getan zu haben und der Sex mit meinem Dad, aber das gehört nicht hier her. Jared, meinem Bruder, schenke ich ein neckisches Zwinkern, das er mit einem Grübchenlächeln erwidert. Er sieht beinahe erwachsen aus, in seinem dunklen Armani-Anzug und dem elfenbeinfarbenen Hemde.
„Wir haben das Wichtigste bereits besprochen“, richtet sich mein Vater wieder an mich. „Sharon hat die Verträge noch einmal durchgearbeitet und bereits in die jeweiligen Mappen verteilt.“
„Sehr gut“, sage ich ruhig. Ich bin nicht nervös. Unser Angebot ist gut, unser Vertrag wasserdicht und die Fusion mit der Frazerschen Reederei im Grunde in trockenen Tüchern. Carter Frazer ist ein tüchtiger Geschäftsmann.
„Wie genau sieht der Tagesplan morgen aus?“, forsche ich weiter. „Mr. Frazer und sein Sohn treffen morgen gegen 10 Uhr ein. Charles hat einen Catering Service beauftragt, der übliche Smalltalk zwischen ein paar Häppchen“, erklärt mein Vater, seine Augen sind ruhig und irgendwie verschleiert.
„Um 10:30 Uhr beginnen wir mit der Präsentation und der Vertragsvorstellung. Jared ist gut vorbereitet-“
„Jared?“, höre ich mich irritiert fragen. Kaum merklich zuckt das linke Auge meines Vaters. „Ja“, beginnt er nun mit bedachter Stimme, als redet er mit einer Fünfjährigen, der er beibringen will, dass sie noch zu klein ist, um bis Mitternacht aufzubleiben. „Wir haben eine kleine Planänderung angedacht. Sieh mal, du hast schon so viel für dieses Projekt getan und wir wollten dir diesen lästigen Part abnehmen.“
Ruhig bleiben, Rebecca, denke ich. Haltung bewahren.
„Den lästigen Part?“ Ich spüre ein Ungeheuer in meinem Magen heranwachsen. „Das ist nicht dein Ernst. Ich habe dieses Projekt an Land gezogen. Ich habe das Konzept ausgearbeitet und jetzt soll ich den wichtigsten Teil nicht machen dürfen?“
„Rebecca!“, herrscht mein Vater mich an. Da, sein Auge zuckt wieder, schneller. Er wird sauer. „Sei nicht kindisch. Dein Bruder-“
„Hat gar nichts damit zu tun“, unterbreche ich ihn. „Entschuldige, Jared.“
Er lächelt nur gequält. Eine kalte Hand legt sich auf meinen Arm und jagt mir einen eisigen Schauer über den Rücken, der sogleich von heißen Wellen vernichtet wird.
„Dad“, spreche ich ruhig, ignoriere die anderen um mich herum. „Das kannst du nicht machen. Ich habe alles für diesen Deal gemacht, du kannst…“ Ich stocke. Verdammt!
Ich wollte Fassung bewahren, doch ich spüre es verräterisch in meiner Nase kribbeln und die Feuchtigkeit in meinen Augen.
„Becky“, säuselt mein Vater und zu der aufsteigenden Wut gesellt sich Übelkeit. Wie kann er es wagen, diesen Namen zu benutzen?
„Sieh doch, das ist die Chance für deinen Bruder. So kann er sich endlich beweisen. Hm?“
Ich würde mich jetzt gern übergeben, aber das tue ich nicht. Stattdessen reiße ich mich von der toten Hand meines Vaters los und sehe ihm direkt in die Augen.
„Natürlich“, erwidere ich gefasst. „Seine Chance.“
Ich spucke ihm die Worte entgegen, hoffe, dass sie ihn direkt ins Gesicht treffen und mache auf dem Absatz kehrt, um diesem erdrückenden Raum zu entkommen. Die Übelkeit hat sich leise verkrochen, während ich in der brennenden Hitze die Straße hinunterlaufe. Stattdessen haben sich Hass und Wut bei mir eingehakt und begleiten mich auf meinen Weg in die erstbeste Bar. Es sind gefühlte 50 Grad, die untergehende Sonne leuchtet feuerrot und ich habe meine Sonnenbrille vergessen. Eigentlich hatte ich den Wagen nehmen wollen, doch das Laufen macht mich frei. Im Wagen wäre ich wohl geplatzt. Ich habe keine Ahnung, wo genau ich gerade lang gehe und es ist bereits früher Abend, aber ich muss weiter. Die Demütigung treibt mich voran, weg von meinem Vater und dieser Farce. Es ist seine Chance, echot es in meinem Kopf. Ich liebe meinen kleinen Bruder, aber vom Geschäft hat er keine Ahnung. Er weiß das und Dad auch. Ich habe mich stattdessen für die Reederei interessiert, einen glatten 1,0 Abschluss an der Wirtschaftsschule hingelegt und meinen Vater unterstützt, wo ich nur konnte. Die Fusion mit den Frazers verdankt er allein mir. Ich brauche einen Scotch. Oder einen Whisky. Irgendwas Starkes, das in der Kehle brennt und die Gefühle in meinem Magen ertränkt. Ich habe schon lange nicht mehr getrunken.
Als ich links abbiege, lächelt mich das buntleuchtende Schild eines Clubs an. Absynthe Minded. Die Leuchtreklame blinkt. Der Eingang liegt am Ende einer Treppe, die nach unten führt. Es scheint viel los zu sein. Ein paar Menschen stehen oben und rauchen. Also beschließe ich, hineinzugehen. Die Wärme nimmt zu, als ich durch die Glastür des Clubs gehe. Würzige Rauchschwaden, blauer Dunst und Musik sowie laute Stimmen und viele Menschen nehmen mich in Empfang. Ich hatte Recht. Es ist bereits einiges los und alle wirken viel zu fröhlich, um mir und meiner Abscheu die richtige Gesellschaft zu bieten. Aber mir gefällt das Ambiente. Dunkles Holz mit viel Glas. Und das Wichtigste: Keine verspiegelte Theke. Vielleicht ist es doch nicht so übel. Die Hitze legt sich in einem Schweißfilm über meine Haut und einzelne Haarsträhnen aus meinem Zopf kleben in meinem Nacken. Ich werde eine Sünde begehen und Whisky mit Eis bestellen. Vielleicht auch noch ein paar Eiswürfel extra. Mit einem Seufzen lasse ich mich auf den Barhocker nieder und betrachtete die beiden Männer hinter der Theke. Geschäftig aber lächelnd bedienen sie die Gäste, mixen Cocktails oder spülen Gläser. Auch sie wirken so ekelhaft ausgeglichen, dass sich die Übelkeit direkt wieder an meine Seite begibt und einen Arm um mich legt. Lang nicht gesehen, sagt sie und grinst. „Hallo“, richtet ein junger, blonder Barkeeper das Wort an mich. „Was darf’s für dich sein?“ „Einen Ballantine“, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab, das in meinen Wangenknochen schmerzt. „Mit Eis, bitte.“
„Das ist eine Sünde“, erklingt eine dunkle Stimme neben mir, begleitet von starken Armen und einem schwarzen Tablett.
„Zwei Martini und einen Cosmo, Henry.“ Ich blicke in zwei stahlblaue Augen und einen dunklen Lockenschopf. Weiße Zähne blitzen mir neckisch entgegen und im ersten Moment weiß ich nicht, ob ich sein Lächeln erwidern oder ihm das Tablett aus der Hand schlagen soll.
„Und das, wo du wie ein Engel aussiehst“, fügt der Kellner hinzu. Tablett aus der Hand schlagen – definitiv. Aber ich beherrsche mich, denn Ignoranz wird diesen Kerl viel mehr stören, als ein Wutausbruch. Also drehe ich mich weg und nehme mein Getränk in Empfang. Gierig lege ich beide Hände um das eiskalte Glas. Kurz schließe ich die Augen und genieße die Kühle. Doch lange hält dieser ruhige Moment nicht an, weil ich spüre, dass ich immer noch angestarrt werde. Zwei Augen, die sich wie Pfeile in meinen Kopf bohren.
„Was?“, zische ich und funkele den Kellner an.
„Nichts“, sagt er amüsiert, „ich frage mich nur, ob du ihn auch trinkst.“
Er nickt auf den Whisky in meinen Händen.
„Sonst hätte ich ihn ja nicht bestellt, oder?“
„Siehst nicht aus, wie eine, die so hartes Zeug verträgt.“
Kurz bin ich versucht, das Glas in einem Zug zu leeren, besinne mich jedoch schnell eines Besseren. Hat es sich die Welt heute zur Aufgabe gemacht, mich zu nerven? Mir den Tag zu versauen?
„Wie gut, dass mich deine Meinung nicht interessiert“, erwidere ich kalt und nippe an meinem Whisky. Das augenblickliche Würgen unterdrücke ich schwer. Der bittere Geschmack scheint nur zähflüssig meine Kehle hinab zu gleiten und hinterlässt eine brennende Spur.
„Na, da hat aber jemand grandiose Laune“, entgegnet mein penetrantes Gegenüber belustigt. „Ich bin Aaron“, stellt er sich kurz vor.
„Ich bin Satan“, sage ich genervt und drehe ihm nun den Rücken zu.
Ich presse mir das Glas an den Hals und genieße den Moment lindernder Kälte.
„Ach, deshalb die Sünde“, wispert es an mein Ohr. „Wenn dir so heiß ist, solltest du dich vielleicht ein wenig entkleiden.“
Sein Atem ist heiß und kühl zugleich. Meine Nackenhaare stellen sich auf und gefangen in dem Moment, reagiere ich nicht schnell genug. Als ich mich umdrehe, um ihm etwas entgegenzusetzen, ist er weg. Untergetaucht in der tanzenden Menge, versteckt im bunten Licht. Ich weigere mich meinen Blazer auszuziehen. Außerdem bekomme ich keinen weiteren Schluck meines Whiskys herunter. Ich schwitze und meine Laune liegt nun in der Nähe des Gefrierpunktes. Mein Blick schweift immer wieder durch den Club und sobald ich Aarons dunklen Schopf erblicke, grummele ich eine Beschimpfung und wende mich ab. Das ist kindisch und albern. Aber ich ärgere mich nun doch, dass die Theke nicht verspiegelt ist. Es würde mir viel leichter fallen, ihn zu beobachten, wenn ich mich dabei nicht so outen müsste. Ich werfe einen Blick in mein Glas. Das Eis hat sich aufgelöst und die rotbraune Flüssigkeit um ein paar Nuancen aufgehellt. Eigentlich hasse ich Whisky. Ich hasse Alkohol generell. Er schmeckt nicht und am nächsten Tag sind die Probleme nicht ertrunken, sondern haben schwimmen gelernt. Noch viel mehr hasse ich, dass mein Vater mich hierhergetrieben hat. Sofort ist das Ungeheuer in meinem Magen wieder da und trommelt rebellierend. Wie konnte er mich so hintergehen? Wie konnte er mich ins offene Messer laufen lassen? Wieso überrascht es mich immer noch so sehr?
Jetzt ist es genug. Ich ziehe den Blazer doch aus und werfe ihn über den Hocker neben mir. Dann schiebe ich das widerliche Gesöff weg und bestelle mir stattdessen einen Lemon Squash, da ist auch viel mehr Eis drin.
„Braves Mädchen“, erklingt es säuselnd hinter mir. Ich hätte es wissen müssen. Selbstzufrieden nimmt Aaron neben mir Platz und sieht mich an.
„Wird es dir nicht langweilig, ständig abzublitzen?“, frage ich versucht gleichgültig.
„Ich liebe die Herausforderung“, erwidert er sicher und stützt sein Kinn auf seine Hand. „Was macht eine Frau wie du in einem Club wie diesem hier?“
Ich kann ein empörtes Hüsteln nicht verhindern.
„Eine Frau wie ich?“
„Ja“, nickt er. „Hübsch, im Business-Dress, allein. Da ist ein Fehler im Bild.“
„Oh bitte“, sage ich. „Spar’ s dir. Mein Vater war kein Dieb, wir haben uns noch nicht vorher irgendwo gesehen und nein, du bekommst meine Nummer auch nicht.“
„Autsch“, zieht Aaron eine Leidensmiene. „Das hat weh getan.“
Ich nehme einen Schluck aus meinem Getränk und zeige mich unbeeindruckt. Stattdessen presse ich erneut das Glas an meine Wange.
„Gut, Satan“, lächelt Aaron und um seinen Mund bilden sich zwei verführerischen Grübchen. „Kein Dieb, wir kennen uns nicht und auch keine Nummer.“ Er stockt, mimt den Denker und reibt sich übers Kinn. „Wie wäre es dann mit einem Tanz?“
Ich verschlucke mich und muss aufpassen, nichts auszuspucken. Ist das Mut oder Dummheit? Versucht beiläufig mustere ich Aaron. Er ist groß und muskulös gebaut. Er trägt ein graues Hemd, das bis zu den Ellbogen hochgeschoben ist und eine offene, schwarze Weste darüber. Er sieht gut aus, verwegen, anziehend. Aber so einfach mache ich es ihm nicht.
„Nein danke“, sage ich und nippe erneut an meinem Lemon Squash.
„Hast du einen Freund?“, fragt er.
Royce, denke ich. Aber er ist nicht mein Freund. Und ich bin nicht seine Freundin.
„Vielleicht“, halte ich mich geheimnisvoll und werfe Aaron nun einen intensiven Blick zu.
„Also nein“, durchschaut er mich und ich fühle mich wie ein Schulmädchen, das beim Abschreiben erwischt wurde.
„Ich habe meine Sachen hier liegen“, nicke ich zu dem Hocker neben mir.
„Henry?“, ruft Aaron und reicht dem Gerufenen meinen Blazer samt Tasche. „Alles sicher verstaut.“
Aarons Augen sind irgendwie hypnotisch und die Musik, die gespielt wird, nebelt mich ein. Trotzdem bleibe ich standhaft, ein bisschen mehr Mühe darf er sich noch geben.
„Ich denke nicht“, sage ich nun und nuckele an meinem Strohhalm.
„Okay“, resigniert er. „Dann nicht.“
Mit diesen Worten macht er auf dem Absatz kehrt und geht. Ich würde mich gerne selbst ohrfeigen oder meinen Kopf auf die Theke aufschlagen lassen, aber das ist leider gerade nicht möglich. Heute ist nicht mein Tag. Ich sollte gehen, mich irgendwo am Strand eingraben und für die nächsten 50 Jahre totstellen. Ich drehe mich ein letztes Mal der Tanzfläche zu, betrachte die bunten Lichter, die sich in den Glasdiamanten der Kronleuchter brechen. Viele tanzen, unter anderem Aaron. Mit einer Rothaarigen. Muss er nicht arbeiten?
Eigentlich darf ich mich gar nicht aufregen, ich bin selber schuld. Trotzdem muss ich meine Lippen zusammenpressen. Sie bewegt sich steif und wirbelt viel zu auffällig mit ihren roten Locken. Außerdem grinst sie wie ein Honigkuchenpferd. Sie trägt eine schwarze Jeans und ein schwarzes Top. Einfallsreich. Das kannst du besser, flüstert mir die Eifersucht stichelnd ins Ohr. Aber sie hat Recht, ich kann das besser. Also stehe ich auf, gehe direkt auf die Tanzfläche und bewege mich zum Rhythmus. Ich habe lange nicht mehr getanzt, schon gar nicht alleine und fühle mich sogleich etwas unbehaglich.
Was tue ich hier eigentlich?, denke ich, bereit sofort aus dem Lokal zu stürmen, als sich eine warme Hand auf meine Schulter legt.
„Du kannst das definitiv besser“, erkenne ich Aarons Stimme und höre sein Lächeln heraus. „Danke“, sage ich statt eines bissigen Kommentars. Er legt nun seine Hände um meine Taille und zieht mich ein Stück an sich heran. Seine Augen sind von Nahem noch schöner.
„Woher der Sinneswandel?“, fragt er leise und die Musik wird langsamer, ruhiger.
„Ist kompliziert“, weiche ich aus. Ich spüre, wie sich die Hitze in meinen Wangen fokussiert. Gott sei Dank ist es dämmrig in dem Club.
„Die Dinge sind nie kompliziert“, sagt Aaron und dreht mich einmal um meine eigene Achse, um mich dann wieder an seine Brust zu ziehen. Eine starke Brust.
„Die Umstände sind es vielleicht, aber die Dinge sind im Grunde immer einfach.“
„Findest du?“
Seine Augenbrauen heben sich für einen kurzen Moment, bevor er grinst.
„Japp. Nehmen wir zum Beispiel mal die Liebe“, betont er das letzte Wort und zwinkert mir zu. Idiot.
„Die Liebe ist nicht kompliziert. Entweder liebt man oder nicht. Die Umstände mögen schwierig sein, aber Liebe selbst? Nein.“
Ich denke einen Moment über seine Worte nach und will ihm aus Prinzip schon nicht zustimmen.
„Bist du ein Philosoph?“, frage ich stattdessen. „Oder ein Prophet, auf dem Weg mich zu bekehren?“
Ich rolle mit den Augen. Er lacht, wirbelt mich ein wenig herum.
„Sagen wir mal so“, tut er geheimnisvoll, „ich bin schon viel rumgekommen.“
„Wo warst du schon?“ Meine Neugier kommt hervor. Reisen fasziniert mich.
„Lateinamerika, Kanada, Europa.“
„In Europa? Wo genau?“
Aaron hält kurz inne und betrachtet mich einen Augenblick forschend. Meine Haut kribbelt ein bisschen an den Stellen, wo sein Blick mich zu berühren scheint.
„Ich mache dir ein Angebot“, schlägt er vor und in seinem Gesicht liegt der Ausdruck eines Spielers. Herausfordernd, bluffend und abenteuerlustig. „Wir wechseln uns ab. Ich erzähle etwas über mich und du über dich. Dann ist es nicht so einseitig.“
Er zwinkert und nickt in Richtung Bar.
„Na gut“, stimme ich zu.
Sein Angebot klingt fair und dass ich nicht Satan bin, wird er wohl durchschaut haben. Wir sitzen eine ganze Weile zusammen an der Bar. Ich habe den Lemon Squash gegen eiskalte Cola getauscht und Aaron hält sich eisern an Wasser. Eigentlich muss er arbeiten, aber er macht etwas länger Pause und hofft, dass es nicht auffällt. Natürlich nicht, wenn er direkt vor dem Chef an der Bar sitzt. Trotzdem muss ich schmunzeln. Also erzähle ich ihm, dass ich Rebecca Lilian Hale bin, die Tochter von Rufus Archibald Hale, dem Inhaber von Hale-Waters, der zweitgrößten Reederei unseres Bundesstaates. In der Presse auch charmant als Hell-Waters bezeichnet. Im Gegenzug erfahre ich, dass Aaron Samuel Harris ursprünglich aus Tennessee stammt und mit 18 sein Zuhause verlassen hat. Seither ist er viel herumgereist, hat sich schon vielen Bewegungen angeschlossen und sieht sich selbst als Hippie der Neuzeit. Am meisten beeindruckt mich, dass er schon in Europa war und Länder wie Frankreich, England oder Italien bereist hat.
„Was hat dich von zuhause fortgetrieben?“, frage ich.
„Weiß nicht genau“, antwortet Aaron und zuckt mit den Schultern. „Ich war wohl immer schon rastlos. Ich wusste nicht genau, was ich machen wollte, aber eins war mir früh klar, in Tennessee bleiben, wollte ich nicht.“
Ein wenig beneide ich ihn für seinen Mut, den man ihm immer noch als Dummheit auslegen könnte. Aber insgeheim weiß ich, dass es nichts mit letzterem zu tun hat. Aaron ist seinem Bauchgefühl gefolgt und hatte Glück.
„Und du, was hat dich wirklich hierhergetrieben, heute Abend?“
Aarons Augen glühen leicht und ich habe schon bemerkt, dass dies ein Zeichen wahrer Neugier ist. Ich grinse und zögere den Moment der Enthüllung ein wenig heraus. Eigentlich bin ich versucht, ihm eine Lüge aufzutischen, mir etwas auszudenken, das der Wahrheit nicht mal im Entferntesten ähnelt, aber ich tue es nicht. Etwas an Aaron sagt mir, dass ich ihm die Wahrheit sagen kann und ich möchte es. Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich ihn nicht wiedersehen muss?
„Und sag jetzt nicht, es ist kompliziert“, lacht er und nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
„Nein“, erwidere ich sein Lachen. „Im Grunde ist es ganz einfach. Mein Vater hat mich reingelegt und ich wollte mich betrinken. Aber dann ist mir wieder eingefallen, dass ich gar keinen Alkohol mag und mein Plan war dahin.“
„Shit happens“, grinst Aaron.
„Offensichtlich“, erwidere ich.
Meine Stimmung ist etwas eingebrochen, weil ich in Gedanken meinen Vater sehe, wie er mir ins Gesicht lacht und weiß, dass er mich absägt.
„Wie lange bleibst du noch in der Stadt?“, will ich wissen und versuche die Bilder in meinem Kopf in eine Schublade zu stecken und diese abzuschließen.
„Mal sehen“, antwortet er überlegend. „Man weiß nie, was kommt.“
„Aaron!“, ruft nun jemand vom anderen Ende der Bar, dessen Zornesfalte zwischen den Augen beängstigend ist.
„Die Pause ist um.“
Er nickt und seufzt tief, bevor er aufsteht.
„Also“, beginnt er und nimmt meine Hand. „Rebecca Lilian Hale, es hat mich gefreut.“
Er macht einen Knicks und küsst meinen Handrücken.
„Den Kuss deutet man eigentlich nur an“, kommentiere ich gespielt empört.
„Wenn schon, denn schon“, sagt er grinsend. Aaron grinst generell ziemlich viel. „Das Leben ist zu kurz, um immer nur Andeutungen zu machen.“
Und plötzlich steht er ganz nah vor mir. Er wird mich küssen, denke ich, doch das geschieht nicht und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich enttäuscht. Stattdessen streicht er mir eine weitere lose Haarsträhne hinter die Ohren und geht. Das wars?, klingt es in meinem Kopf. Aber trotzdem muss ich lächeln.
Ich bleibe noch einige Zeit und habe Aaron vollständig aus den Augen verloren. Die Uhr mit den leuchtenden Zeigern zeigt kurz vor zwölf an und ich bin etwas überrascht, wie lange ich schon in diesem Club bin. Immer noch strömen Menschen die Treppe hinunter und auch die Tanzfläche leert sich nicht. Ich habe mich noch mit einem anderen Mann unterhalten – Chris – aber der war wenig unterhaltsam. Er hat noch mehr geschwitzt, als ich und ziemlich viel gezwinkert beim Reden. Chris ist Banker und ziemlich erfolgreich, wenn man seinen Aussagen Glauben schenken darf, was ich bezweifle. Er erwähnt seine Position viel zu häufig, genau wie seinen Besitz. Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Chris Augen sind auch blau, aber in ihnen glitzert es nicht, sondern sie sind träge und verschleiert vom Alkohol.
„Chris“, erklingt meine Stimme weich aber entschlossen. „Ich denke, ich gehe jetzt.“
„Schon?“, fragt er enttäuscht und schaut wie ein ausgesetzter Hund.
„Ja, es ist spät und ich habe morgen wichtige Termine.“
Chris nickt und zwinkert wieder. Soll das eine Botschaft sein?
„Ich werde wohl auch gehen“, fügt er hinzu und legt einen zerknitterten 20 Dollarschein auf den Tresen.
„Stimmt so.“
Henry nimmt den Schein in Empfang und dankt mit einer salutierenden Geste, indem er sich mit zwei Fingern gegen die Stirn tippt. Ich habe schon vor einer Weile gezahlt und lasse mir meine Jacke und Handtasche geben. Ein letztes Mal wandern meine Augen durch den Club. Eine Mischung aus Zeiten der Prohibition und 70er Jahre weht mir zum Abschied entgegen. Bunte Lichter und klassisches Design. Eine clevere Idee.
„Darf ich?“, höre ich Chris neben mir fragen und blicke mit hochgezogenen Augenbrauen auf seinen Unterarm, den er mir zum einhaken hinhält.
„Danke, geht schon.“ Ohne weiter auf ihn zu achten, gehe ich die Treppen hoch zum Ausgang. Aaron ist nirgends zu sehen und eigentlich ist es mir egal. Das angenehme Kribbeln, das seine Gegenwart hervorgerufen hat, vermisse ich nicht und auch den Blick in seine tiefblauen Augen sehne ich nicht herbei. Die Nacht ist angenehm lau und begrüßt uns mit einer seichten Brise. Der Himmel ist dunkel und die Sterne leuchten ganz schwach, geblendet vom grellen Licht der Straßenlaternen. Vor dem Eingang tummeln sich nun richtige Grüppchen und Gelächter hallt durch die Straßen.
„Also“, beginnt Chris, der immer noch neben mir steht und mich mit seiner Präsenz allmählich nervt. Er ist etwas unsicher, tippelt von links nach rechts und fährt sich viel zu oft mit seiner Zunge über die Lippen.
„Hast du noch Lust auf einen Kaffee?“ Ich lache. Ich kann gar nicht anders.
Chris wird rot, das kann nicht mal die Dunkelheit der Nacht verbergen und das bringt mich noch mehr zum Lachen.
„Nein, danke“, kriege ich hervor.
Chris nuschelt irgendwas, während er sich von mir entfernt, und ich kann nur mit dem Kopf schütteln. Nett war das nicht, zu lachen, aber gut getan hat es. Schließlich will ich mich jetzt nach Hause begeben, um am nächsten Morgen mit meinem Vater und meinem Bruder zu frühstücken und da wird es nicht mehr viel zu lachen geben. Das gemeinsame Frühstück ist ein Ritual vor großen Geschäftsterminen. Und eigentlich will ich da nicht hin – weder zum Frühstück, noch zum Meeting.
„Na endlich“, reißt mich eine tiefe Stimme aus meinen Gedanken. „Ich dachte schon, den wirst du nie los.“
Überrascht blicke ich auf und traue meinen Augen nicht. Da steht Aaron, gegen ein dunkles Motorrad gelehnt, beide Arme vor der Brust verschränkt und – natürlich – grinsend. Die Luft lädt sich sofort statisch auf und ich höre das feine Knistern.
„Du hättest mich ja retten können“, entgegne ich und betrachte seine Maschine eingehender. Ich habe keine Ahnung von Motorrädern, ich liebe es, sie zu fahren, aber mit Marken kenne ich mich nicht aus. Meine Finger beginnen zu kribbeln.
„Ach“, sagt Aaron in beschwichtigendem Tonfall, „ich dachte, Satan schafft das schon.“ Elegant stößt er sich ab und kommt auf mich zu. In seinem Blick liegt dieser Funke, der auf alles in seiner Umgebung überspringt und augenblicklich Feuer fängt.
„Noch was vor?“, fragt er.
Das Monster in meinem Magen scheint die Schlagringe gegen ein Feenkostüm getauscht zu haben und flattert wild herum. Mein Blick huscht zu der Maschine und ich habe schon verloren, bevor ich einen Schlachtplan entwickeln kann.
„Wie wär’s mit einer Spritztour?“, schlage ich vor.
„Genau mein Gedanke“, erwidert Aaron und lächelt. Diese Grübchen gehören verboten.
„Aber ich fahre“, überrasche ich nun ihn und sehe ihn zum ersten Mal sprachlos.
Was du kannst, kann ich schon lange, denke ich triumphierend.
„Niemals“, sagt er, nach einem Moment.
„Warum nicht?“
„Das ist…“
„Kompliziert?“ Ich kichere.
„Die Dinge sind nie kompliziert“, erkläre ich ihm, während ich auf das Motorrad zugehe und mit meinem Finger über den ledernen Sattel fahre. „Im Grunde ist es ganz einfach. Entweder, du lässt mich fahren oder du fährst allein. Die Umstände –“
„Schon gut, schon gut“, winkt Aaron seufzend ab. „Du bist härter, als ich dachte.“
Ich nicke zufrieden und merke, wie sich mein Körper auf das Adrenalin freut, das gleich durch meine Adern fließen wird. Ich bin lange nicht mehr gefahren, aber das behalte ich lieber für mich. Schnell sind zwei Helme aus dem Fach unter dem Sattel geholt, das viel größer ist, als man von außen vermuten mag. Aaron setzt mir meinen auf und stellt den Gurt am Kinn richtig ein. Seine Finger sind rau, aber trotzdem angenehm.
„Die sind sogar mit Funk“, verkündet er stolz.
„Die Helme?“
„Jap.“
„Wo hast du die denn her?“
„Ich hab‘ mal in einer Fahrschule eines Freundes ausgeholfen und das war sein Dank. Für längere Motorradtouren sind die genial.“
„Weil du so eine Quasselstrippe bist?“, necke ich ihn.
„Das auch“, lacht er und reicht mir die Schlüssel.
„Dies ist ein Sakrament“, flüstert er ehrfürchtig und fasst mich an beiden Schultern. „Krümm‘ ihr kein Haar, sie ist empfindlich.“
Ich umschließe den Schlüssel mit meinen Fingern und nicke bedächtig. Dann muss ich lachen und auch Aaron fällt mit ein. Irgendwie ist es leicht, mit ihm zusammen zu sein.
Eigentlich trage ich das falsche Outfit für eine Motorradtour und mein Rock ist viel zu eng, um die Beine soweit zu spreizen. Also reiße ich den Stoff kurzer Hand an den Seiten auf.
„Sexy“, raunt Aaron in mein Ohr und nimmt hinter mir Platz. Seine Arme umschließen meine Taille und er legt seinen Kopf zwischen meinen Schulterblättern ab.
„Oh, das ist so schön“, witzelt er und gibt seiner Stimme einen weiblichen klang. „Ich will, dass dieser Moment nie endet und ich mich für immer an deinen Rücken schmiegen kann.“
„Halt die Klappe“, grinse ich und lasse die Maschine unter lautem Getöse anspringen.
Der Duft von Benzin und Abgasen liegt in der Luft und ich mag den Geruch immer noch. Der Fahrtwind ist angenehm kühl auf meiner Haut und streift mir meine Anspannung ab. Ein unglaubliches Gefühl von Freiheit durchströmt meinen Körper und während Aaron irgendeinen Unsinn redet, würde ich mir am liebsten den Helm abnehmen. Ich möchte meine Haare offen im Wind tanzen lassen und meine Hände vom Lenkrad lösen. Fast wie fliegen. Wie Rose in Titanic. Nur, dass das hier ein Motorrad ist und kein Schiff und hinter mir Aaron sitzt und nicht Jack.
„Bieg da vorne links ab“, weist Aaron mir eine Richtung.
Er will nicht verraten wohin es geht und ich mag das Gefühl von Ungewissheit, das sich wie eine Quintessenz durch die Nacht schleicht. Ich habe mich schon lange nicht mehr so gefühlt. So frei und unbefangen und ich merke, wie sehr mir das fehlt.
„Wohin soll es denn gehen?“, versuche ich erneut unseren Zielort auszukundschaften.
„Eine Überraschung“, sagt er knapp und ich höre das Grinsen in seiner Stimme. Es überträgt sich auf mich. Ich beschleunige nochmal, nachdem wir abgebogen sind und ich erkenne die Küstenstraße, die zu den exquisiteren Badestränden führt.
„Machst du das mit allen Frauen?“, frage ich gespielt eifersüchtig.
„Nein“, antwortet er knapp. „Nur mit jeder zweiten.“
Und irgendwie glaube ich, dass diese Aussage gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist, aber es stört mich nicht.
„Geht’s zu der Sunset Lagune?“, will ich wissen und bin mir ziemlich sicher, dass ich Recht habe. Ich kenne diese Gegend wie meine Westentasche.
„Und schon ist die Überraschung dahin“, seufzt Aaron hinter mir.
Nun ist es an mir zu lachen und ich steuere auf den leeren Parkplatz zu, der vor uns auftaucht.
Die Sunset Lagune ist nicht für jeden zugänglich, nur exklusive Clubmitglieder haben einen Zugangscode. So wie ich. So wie meine gesamte Familie.
Aaron verstaut alles in dem Fach unter seinem Sitz. Ich genieße die Meeresluft, die Würze der Nacht, die Frische. Es ist richtig angenehm. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Der Bereich der Lagune ist von einem weißen Metallzaun umgeben.
„Lust auf ein Mondscheinbad?“, fragt Aaron und sieht mich wieder mit diesem herausfordernden Blick an. Seine Augen glühen und sein Leichtsinn ist ansteckend.
„Ich war schon lange nicht mehr nachts schwimmen“, antworte ich und nicke.
Verwundert halte ich inne, als Aaron sich durch die Büsche schlagen will.
„Was tust du da?“
„Wonach sieht es denn aus?“, erklingt es durchs Geäst.
„Ich habe einen Zugangscode.“
„Pfft“, macht er. „Ist doch langweilig.“
Ich gehe ihm nach und erblicke ihn, wie er sich an einem der Bäume hochhangeln will.
„Oder hast du Schiss?“ Wieder dieser abenteuerliche Ausdruck.
„Ich hab‘ vor gar nichts Schiss“, erwidere ich und ergreife einen dicken Ast, um mich hochzuziehen. Das Holz ist trocken und kantig. Ich merke sofort, wie es die Haut an meinen Händen aufreißt, aber das ist mir egal. Ich will nur schneller sein als Aaron. Für einen Moment fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, als Jared und ich aus allem einen Wettkampf gemacht haben und den anderen um jeden Preis schlagen wollten. Dieser Kampf besteht auch heute noch, nur auf anderer Ebene.
Ich bin tatsächlich schneller als Aaron und will gerade auf den Ast klettern, der über den Zaun reicht, als ich am Fuß festgehalten werde.
„So haben wir nicht gewettet“, grunzt Aaron hinter mir und will sich an mir vorbeidrücken.
„Das ist Schummeln“, grummele ich empört und greife nach seinem Hemd.
Es ist ziemlich wackelig auf dem Ast, aber trotzdem versuchen wir uns gegenseitig zu behindern. Ich kichere und fluche, er lacht und meckert. Letztlich verliere ich das Gleichgewicht und reiße ihn mit mir vom Baum. Aber einen Moment des Verschnaufens gibt es nicht.
„Wer zuerst im Wasser ist“, ruft Aaron und ist schon wieder auf den Beinen.
„Das ist unfair“, schreie ich ihm hinter her, bin aber sogleich hinter ihm.
Gott sei Dank ist der Sturz nicht tief gewesen. Während wir durch den Sand rennen, fliegt mir Aarons Hemd entgegen, aber ich hole ihn trotzdem ein und wir drücken unsere Schultern gegeneinander.
„Du hast keine Chance“, lache ich und schubse ihn.
Er erwischt meinen Arm und zieht mich nach hinten.
„Das werden wir ja sehen.“ Aaron ist zu schnell, also bleibe ich stehen.
„Ach, ich will gar nicht erste sein“, sage ich ungerührt und bohre mit den Zehen im Sand.
Aaron hält an und dreht sich zu mir um.
„Sowas ist albern“, füge ich noch hinzu und schaue auf den Boden. In meinem Inneren kribbelt es wie wild und ich genieße es, das kleine Mädchen zu spielen.
„So?“, fragt Aaron und der Schalk blitzt in seinen Augen auf.
Langsam kommt er auf mich zu und das Kribbeln nimmt zu.
„Das ist also albern?“
Ich nicke und schiebe trotzig das Kinn vor.
„Na, wie albern muss dann das erst für dich sein?“, gluckst er, rennt auf mich zu, um mich kurzer Hand zu schnappen und über seine Schulter zu werfen.
Ich schreie und kreische und klopfe wild mit meinen Fäusten auf seinen Rücken. Aber das beeindruckt ihn nicht, denn er weiß, dass ich nur Theater spiele. In Wahrheit genieße ich diese Albernheit. Ich schreie noch lauter, als er mich einfach ins Wasser fallen lässt, aber nicht, weil es kalt ist, sondern weil es Spaß macht. Weil es befreit.
Die Wellen sind seicht und umschließen uns mit sanfter Wärme. Der Himmel über uns ist dunkel und endlich sehe ich die Sterne. Sie strahlen und ich fühle mich, als schwimme ich in den Weiten des Alls, direkt in fremde Galaxien. Aaron und ich haben uns bis auf die Unterwäsche ausgezogen und tollen herum, wie die Kinder. Wir machen Handstände im Wasser, spritzen uns gegenseitig nass und veranstalten Wettschwimmen oder Wetttauchen. Wir messen uns daran, wer länger die Luft anhalten kann, wer die Muscheln weiter ins Meer wirft, wer mehr Schrauben im Wasser drehen kann, bevor er auftauchen muss. Ich verliere in fast allem und eigentlich bin ich ein schlechter Verlierer. Aber jetzt geht es um nichts und das ist wohl das erste Mal in meinem Leben, wo es um nichts geht.
„Wie wäre es mit etwas zu trinken?“, fragt Aaron und nickt auf das verschlossene Häuschen, das eigentlich eine Strandbar ist.
„Dafür habe ich keinen Code“, sage ich.
„Als ob ich den bräuchte.“ Aarons kehliges Lachen hallt den Strand entlang.
Ich sehe ihm nach, während er aus dem Wasser wartet. Er hat eine Tätowierung auf dem Oberarm und eine Narbe auf der Schulter. Der Mond strahlt auf die Lagune und schenkt mir den Blick auf Aarons Muskeln, die sich gleichmäßig an- und entspannen.
„Was hast du vor?“, forsche ich nach und eile ihm hinterher.
Es ist immer noch warm genug, sodass unsere Haut schnell trocknet.
„Ich hole uns was zu trinken“, erklärt Aaron selbstverständlich und fingert an den geschlossenen Läden der Strandbar herum.
„Die… kann man…“, stöhnt er unter seiner Kraftanstrengung, „aushebeln.“
Und schon rutscht die Lade oben aus dem Scharnier und klappt nach vorn. Vorsichtig schwingt er sich über das Holz und hüpft ins Innere.
„Wenn das Leben dir Zitronen bietet“, erklingt es dann grinsend, gefolgt von zwei gelben Früchten, die auf der Theke erscheinen, „mach Limonade draus.“
Ich kichere. Er ist verrückt.
„Heißt es nicht, dann frag nach Tequila?“
„Du magst keinen Alkohol.“
„Ach ja.“
Aaron gibt einen vorzüglichen Barkeeper ab. Er scheint irgendwie alles zu können. Noch etwas, um das ich ihn beneide.
„Und wohin wird es dich als nächstes verschlagen?“, versuche ich etwas mehr über ihn herauszufinden.
„Nach Texas“, erzählt er und reicht mir ein Glas frisch gepresster Limonade. „Ein Freund von mir organisiert da Motorradtouren durchs ganze Land.“
Ich hebe die Brauen und bin beeindruckt.
„Wirklich?“
„Jap“, nickt Aaron und lehnt sich über den Tresen zu mir herüber. „Das will ich auch irgendwann mal machen.“
„Ist aber ein unsicheres Geschäft“, sage ich. So viele Variablen, keine Konstanten.
„Egal“, winkt er ab und auf seinem Gesicht liegt dieses Grübchenlächeln, das ihn jünger wirken lässt. „Das war schon immer mein Traum. Ich lebe praktisch ein Stückchen Freiheit und kann das zu meinem Beruf machen. Was will man mehr?“
„Sicherheit?“
Er wirft mir einen belustigten Blick zu und trinkt einen Schluck.
„Du gehst nicht gerne Risiken ein, was?“, fragt er statt mir zu antworten.
Ich antworte nicht.
„Du könntest ja mitkommen“, schlägt er vor. Da, schon wieder dieses Glühen in seinen Augen. „Könnte ich“, stimme ich ihm zu und male mir in Gedanken aus, wie ich mit ihm nach Texas fahre. Wie ich Reisen organisiere und mehr von der Welt sehe, als nur die Katalogreisen. Ich sehe Aaron neben mir, der ausgeglichen ist, lacht und an seiner Maschine herum schraubt. Den nichts aus der Ruhe bringt und nichts beängstigen kann.
„Das wäre schon eine verrückte Sache“, erzählt er einfach weiter, beachtet mein Stocken nicht. „Wir könnten einen eigenen Club gründen, so wie die Easy Rider oder Hells Angels.“
Nun muss ich lachen. Aber ich muss zugeben, die Vorstellung hat etwas Reizvolles.
„Und wie sieht es bei dir aus?“, fragt Aaron mich.
„Keine Ahnung“, seufze ich. „Ich denke, ich werde die Expansionsabteilung unserer Reederei übernehmen. So komme ich auch ein wenig herum.“
„Klingt spannend“, sagt er.
Total, denke ich.
„Schade, dass hier keine Musik ist“, werfe ich einfach ein.
Ich will das Thema wechseln, ich will die Leichtigkeit des Abends zurück. Aber ich spüre, dass sie ihre Koffer schon gepackt hat und reisefertig ist.
„Das lässt sich ändern“, erwidert Aaron und hüpft zurück in den warmen Sand. Er kommt auf mich zu, ergreift meine Hand und platziert sie auf seiner Schulter.
„Der Tanz im Absynthe Minded war etwas kurz“, wispert er und schaut mir tief in die Augen. Ein Prickeln überzieht meine Haut, lässt mein Herz schneller schlagen. Leise beginnt Aaron zu summen und dreht mich sanft im Kreis. Die Wellen schwappen sacht an den Strand und verlieren sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, begleiten Aarons Brummen und lassen beinahe wahre Musik entstehen. Sein Kopf neigt sich dem meinen zu und weil ich weiß, dass die Magie nicht bis morgen anhalten wird, strecke ich mich ihm entgegen und erwidere die zärtliche Berührung seiner Lippen. In diesem Moment bin ich bloß Rebecca, irgendeine Rebecca und er ist einfach Aaron.
Gleichmäßiges Rauschen strömt in mein Bewusstsein, vertreibt die Schwärze aus meinem Kopf. Warme Strahlen streifen meine Haut und Sand kitzelt zwischen meinen Füßen. Langsam öffne ich die Augen und blinzele. Es ist hell. Und warm. Ich liege noch immer am Strand der Sunset Lagune und weiß, bevor ich wirklich hingesehen habe, dass Aaron weg ist. Aber ich bin nicht traurig und auch nicht schwermütig. Langsam öffne ich die Augen ganz und betrachte den azurblauen Himmel. Ich horche einen Moment in mich hinein, bevor ich mich aufrichte. Gerade, als ich mir mit der Hand übers Gesicht fahren will, halte ich inne. Da steht etwas auf meiner Handfläche. Irgendwann. Ich lächele. Ich habe keine Schmetterlinge in meinem Bauch, ich bin einfach befreit.
Mit einem Kopfschütteln stehe ich auf und werfe einen Blick auf die Uhr in der Strandbar. Es ist halb neun. Wenigstens den Fensterladen hätte er wieder reparieren können, denke ich. Anderseits ist es so ganz praktisch. Ich klettere hinein und benutze das Telefon an der Wand, um mir ein Taxi zu rufen. Dann bleibe ich einen Moment stehen und überlege, ob ich die benutzten Gläser sauber machen und wegräumen soll. Aber ich tue es nicht. Stattdessen gehe ich einfach und lasse alles wie es ist. Als ich den Eingang erreiche, sehe ich, dass das Wachhäuschen besetzt ist. Mr. Smith sitzt in seinem Stuhl, studiert die Zeitung und hat einen Kaffee in der Hand. Bei dem Wetter. Sicherlich hat er uns gesehen oder mich, aber er kennt mich und ich schätze seine Diskretion.
„Guten Morgen, Mr. Smith“, begrüße ich ihn und klopfe gegen die Scheibe.
„Guten Morgen, Ms. Hale“, erwidert er grummelnd.
„Haben die Yankees verloren?“, necke ich ihn.
Sein Blick spricht Bände und ich kichere.
„Einen schönen Tag noch“, sage ich und gehe.
„Ihnen auch, Ms. Hale“, antwortet er.
„Nächste Woche werden sie die Red Socks vom Platz fegen“, fügt er noch hinzu. Ich lache. „Ganz bestimmt.“
Als ich mein Elternhaus erblicke, bin ich seltsam ruhig. Ich gehe durch die Terrassentür direkt ins Esszimmer und finde meinen Vater sowie meinen Bruder am Tisch vor. Sie sind fertig. Die Teller sind benutzt und der Tisch beinahe abgeräumt.
„Du bist zu spät“, sagt mein Vater, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.
Jared ist still und nervös. Ich weiß, dass er Angst hat, also zwinkere ich ihm kurz zu und versichere ihm, dass es okay ist. Das ist es nicht, aber er kann nichts dafür.
„Ich weiß“, richte ich das Wort an meinen Vater und nehme mir ein Brötchen aus dem Korb. „Wir essen immer zusammen, wenn ein wichtiger Termin bevorsteht“, fährt er fort. „Es gab noch eine Änderung, die wir jetzt nicht mehr besprechen können.“
Ich reiße das Brötchen auseinander und zupfe die weiche Füllung raus. Das habe ich schon als Kind gern gemacht.
„Weißt du was?“, frage ich ruhig. „Das ist mir egal.“
Dann stehe ich auf und verlasse den Raum. In Gedanken gehe ich durch die Haustür und fahre zu dem Club von gestern. Ich setze mich auf Aarons Maschine und begleite ihn nach Texas, lasse alles hinter mir zurück, wie lästiges Gepäck. Aber das tue ich nicht. Stattdessen nehme ich die Stufen hinauf in mein altes Zimmer. Ich setze mich an meinen Schminktisch und betrachte die Frau im Spiegel. Meine Augen strahlen, meine Lippen sind natürlicher Farbe und das zarte Rot auf meinen Wangen ist echt. Denn die Wahrheit ist, ein Leben verändert sich nicht über Nacht. Aber ein Mensch, ein Mensch kann das und damit verändert sich auch sein Leben. Nicht sofort, nicht rasend schnell, aber irgendwann.